Verlängerung der Überlassungshöchstdauer bis zu (mindestens) 48 Monaten zulässig

Das Bundesarbeitsgericht bestätigt (Urteil vom 8. November 2022, Az. 9 AZR 486/21), dass eine Verlängerung der Höchstüberlassungsdauer bis zu einer Höchstdauer von 48 Monaten zulässig sei. Eine nach Maßgabe des § 1 Abs. 1b S. 3, 5 AÜG aufgrund eines Tarifvertrags der Einsatzbranche durch Betriebsvereinbarung auf 48 Monate verlängerte Überlassungshöchstdauer hält sich im Rahmen dessen, was als "vorübergehend" iSd. § 1 Abs. 1 S. 4 AÜG iVm. Art. 1 Abs. 1 Richtlinie 2008/104/EG anzusehen ist.

Fiktion eines Arbeitsverhältnisses zum Entleiher bei unzulässiger Überschreitung der Überlassungshöchstdauer?

Die Parteien stritten darüber, ob zwischen Ihnen kraft Gesetzes ein Arbeitsverhältnis zustande gekommen ist. Die Beklagte, ein Unternehmen aus der Automobilzuliefererindustrie, setzte den Kläger seit dem 26. Oktober 2015 als Leiharbeitnehmer ein. Der Verband der Metallindustriellen Niedersachsens e. V., deren Mitglied die Beklagte war, vereinbarte mit der IG Metall in einem Tarifvertrag, der mit Wirkung zum 1. April 2017 in Kraft trat, dass die Höchstdauer eines Einsatzes von Leiharbeitnehmern in Umsetzung der Öffnungsklausel nach § 1 Abs. 1b AÜG, 48 Monate nicht überschreiten darf. Zusätzlich vereinbarten die Beklagte und ihr Gesamtbetriebsrat in Ausübung der im Tarifvertrag enthaltenden Öffnungsklausel in einer Gesamtbetriebsvereinbarung (GBV) eine entsprechende Höchstdauer des Einsatzes. Der Verleiher meldete den Kläger als Leiharbeitnehmer bei der Beklagten zum 30. April 2020 ab.

Der Kläger begehrte die Feststellung eines Arbeitsverhältnisses zu der Beklagten auf Grund der Überschreitung der Höchstüberlassungsdauer, da sein Einsatz von insgesamt mehr als 54 Monaten nicht mehr als „vorübergehend“ im Sinne von § 1 Abs. 1 S. 4, Abs. 1b AÜG i.V.m. der Richtlinie 2008/104/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit (Leiharbeitsrichtlinie) anzusehen sei. Die im Tarifvertrag bzw. in der GBV festgelegte Überlassungshöchstdauer von 48 Monaten überschreite den Rahmen der gesetzlichen Öffnungsklausel. Der Kläger habe daher einen Anspruch auf Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Das BAG bestätigte die Urteile der Vorinstanzen.

Höchstüberlassungsdauer von 48 Monaten ist (noch) „vorübergehend“

Das BAG ist der Auffassung, dass kein Arbeitsverhältnis nach § 9 Abs. 1 Nr. 1b, § 10 Abs. 1 S. 1 AÜG wegen Überschreitens der zulässigen Überlassungshöchstdauer kraft Gesetzes begründet wurde.

Für die Berechnung der Überlassungshöchstdauer sind gemäß der Übergangsvorschrift in § 19 Abs. 2 AÜG die 37 Monate des Einsatzes des Klägers bei der Beklagten seit dem April 2017 (nur Einsatzzeiten nach Novellierung des AÜG) maßgeblich. Hierbei sei eine arbeitnehmerbezogene Betrachtung vorzunehmen. Zwar sei die Übergangsvorschrift des § 19 Abs. 2 AÜG nicht mit Unionsrecht vereinbar sei (vgl. EuGH 17. März 2020 – C-233/20). Auf die Unwirksamkeit könne sich der Kläger aber in einem Individualrechtsstreit zwischen Privatpersonen nicht berufen, mithin auch kein subjektives Recht auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem Entleiher ableiten (Bestätigung von BAG, Urteil vom 5. Juli 2022, Az. 9 AZR 476/21).

Der Gesetzgeber habe in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise, den Tarifvertragsparteien die Ermächtigung übertragen, mit Blick auf den Begriff „vorübergehend“ in § 1 Abs. 1b S. 1 AÜG auf Grundlage eines Tarifvertrages bzw. in entsprechenden Betriebsvereinbarungen eine abweichende Bestimmung der Überlassungshöchstdauer vorzunehmen. Eine Überlassungsdauer von 48 Monaten hält sich nach Auffassung des BAG im Rahmen dessen, was als „vorübergehend“ im Sinne von § 1 Abs. 1 S. 4 AÜG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 Leiharbeitsrichtlinie anzusehen ist. Sie erscheint unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Umstände, zu denen insbesondere die Branchenbesonderheiten zählen, vernünftigerweise noch als vorübergehend. Aus § 1 Abs. 1b S. 1, 6 AÜG, die eine Überlassungshöchstdauer von 18 beziehungsweise 24 Monaten außerhalb der Geltung eines Tarifvertrages vorsehen, ergibt sich, dass eine vorübergehende Überlassung diesen Zeitraum jedenfalls übersteigen kann. Gleichzeitig ist ein Zeitraum von 4 Jahren nicht als „dauerhaft“ anzusehen, da die gesetzlich angedeuteten Grenzen nicht um ein Vielfaches überschritten werden sollten.

Einzelfallentscheidung bleibt maßgeblich

Das BAG trägt mit seinem Urteil erfreulicherweise (zumindest in der Metall- und Elektroindustrie) zur Rechtssicherheit bei, wonach die Verlängerung der Höchstüberlassungsdauer auf 48 Monate als zulässig angesehen wird.

Das BAG hatte erst kürzlich in einem ähnlich gelagerten Fall (BAG, Urteil vom 14. September 2022, Az. 4 AZR 82/21) entschieden, dass die Geltung eines Tarifvertrags nach § 1 Abs. 1b S. 3 AÜG, durch den die nach gesetzlich festgelegte Überlassungshöchstdauer abweichend geregelt wird, allein die Tarifgebundenheit des Entleihers erfordert. Der Gesetzgeber habe den Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche eine von den im TVG vorgesehenen Arten von Tarifnormen (§ 1 Abs. 1 TVG) und deren Bindungswirkung (§ 3 Abs. 1 und 2, § 4 Abs. 1 TVG) abweichende Regelungsbefugnis eingeräumt. Für die Verleiherin und den überlassenen Arbeitnehmer entfaltet diese tarifliche Regelung — unabhängig von deren Tarifgebundenheit — Geltung.

Das vorstehende Ergebnis kann aber nicht unbesehen auf jegliche anderen Tarifverträge in anderen (Einsatz-)Branchen übertragen werden. Zwar dürfte ein Zeitraum von 48 Monaten mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als „vorübergehend“ iSd. § 1 Abs. 1 S. 4, Abs. 1b AÜG angesehen werden. Die Arbeitsgerichte sind allerdings berufen im Einzelfall und unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Umstände, insbesondere der Branchenbesonderheiten, zu bestimmen, was als „vorübergehend“ angesehen werden kann. Gleichwohl wird erst bei einem (gravierenden) Missbrauch des Personaleinsatzes zukünftig eine Überlassung von 48 Monaten als „dauerhaft“ anzusehen sein.

Offen bleibt zudem, wann das BAG davon ausgehen würde, dass eine (noch) längere Überlassungshöchstdauer nicht mehr als „vorübergehend“ sondern als „dauerhaft“ angesehen werden könnte (z.B. 60, 72 oder 120 Monate). Ausweislich der Gesetzesbegründung existieren diverse Tarifverträge mit einer Höchstüberlassungsdauer von bis zu 120 Monaten (vgl. BT-Drucks 19/9779, S.8). In dem Zusammenhang entstehen für die Praxis besondere Herausforderungen: Zwar steht den Gewerkschaften die Einschätzungsprärogative bei den Tarifverhandlungen zu, letztendlich entscheidet jedoch die Rechtsprechung (im Nachhinein, ggf. Jahre später). Das vorliegende Urteil gibt (leider) keinen Aufschluss darüber, ob 48 Monate als die absolute richterliche Höchstgrenze anzusehen sind oder ob ein noch längerer Zeitraum (unions-)rechtlich zulässig sein könnte. Es bleibt bei dem Risiko für die Beteiligten: Vorbehaltlich einer sog. Festhaltenserklärung des Leiharbeitnehmers betreffend das Arbeitsverhältnis zum Verleiher hat das Überschreiten der Höchstüberlassungsdauer zur Folge, dass das Arbeitsverhältnis zwischen dem Leiharbeitnehmer und dem Verleiher gem. § 9 Abs. 1 Nr. 1b AÜG unwirksam ist und ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Leiharbeitnehmer und dem Entleiher fingiert wird.

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