Streitigkeiten, die die Abgeltung von Überstunden betreffen, sind nicht selten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu beobachten. Dementsprechend hat sich zu dieser Thematik auch eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung etabliert. Mit der Frage, wer die Überstunden darlegen und beweisen muss, hat sich nun (erneut) das Bundesarbeitsgericht (BAG) beschäftigt. Das Gericht entschied, dass weiterhin Arbeitnehmer das Vorliegen von Überstunden und eine diesbezügliche arbeitgeberseitige Veranlassung beweisen müssten. Das „Stechuhr-Urteil“ des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus dem Jahr 2019 ändere hieran nichts.
Der Kläger war bei der Beklagten, Betreiberin eines Einzelhandelsunternehmens, als Auslieferungsfahrer angestellt. Seine Arbeitszeit erfasste der Kläger mittels technischer Zeitaufzeichnung, wobei nur Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit, nicht jedoch die Pausenzeiten aufgezeichnet wurden. Zum Ende des Arbeitsverhältnisses ergab die Auswertung der Zeitaufzeichnungen einen positiven Saldo von 348 Stunden zugunsten des Klägers. Mit seiner Klage verlangte der Kläger Überstundenvergütung in Höhe von EUR 5.222,67 brutto. Er machte geltend, dass er die gesamte aufgezeichnete Zeit gearbeitet habe. Pausen zu nehmen sei nicht möglich gewesen, weil sonst die Auslieferungsaufträge nicht hätten abgearbeitet werden können. Die Beklagte bestritt dies. In der ersten Instanz hat das Arbeitsgericht Emden der Klage des Arbeitnehmers auf Abgeltung der Überstunden stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen war anderer Meinung und änderte das Urteil in der Berufung zulasten des Klägers ab, indem es die Klage abwies.
Das BAG schloss sich in der Revision dem Landesarbeitsgericht (LAG) an. Das Gericht stellte klar, dass das in Deutschland viel diskutierte Urteil des EuGH (Urteil vom 14.05.2019 – C-55/18) zur Arbeitszeiterfassung („Stechuhr-Urteil“) nichts an dem grundsätzlichen Erfordernis der Darlegung der arbeitgeberseitigen Veranlassung und Zurechnung von Überstunden durch den Arbeitnehmer ändere. Erstinstanzlich vertrat das Arbeitsgericht Emden die gegenteilige Ansicht. Danach werde die Darlegungslast im Überstundenvergütungsprozess modifiziert, da laut des „Stechuhr-Urteils“ des EuGH die Mitgliedstaaten Arbeitgeber verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen. Die positive Kenntnis von Überstunden als eine Voraussetzung für deren arbeitgeberseitige Veranlassung sei jedenfalls dann nicht erforderlich, wenn der Arbeitgeber sich die Kenntnis durch Einführung, Überwachung und Kontrolle der Arbeitszeiterfassung hätte verschaffen können. Ausreichend für eine schlüssige Begründung der Klage sei, die Zahl der geleisteten Überstunden vorzutragen. Da hier die Beklagte ihrerseits nicht hinreichend konkret die Inanspruchnahme von Pausenzeiten durch den Kläger dargelegt habe, war die Klage erstinstanzlich begründet.
Das BAG (und zuvor auch schon das LAG) sahen dies anders. Das „Stechuhr-Urteil“ sei zur Auslegung und Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und von Art. 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergangen. Nach gesicherter Rechtsprechung des EuGH beschränkten sich diese Bestimmungen darauf, Aspekte der Arbeitszeitgestaltung zu regeln, um den Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten. Sie fänden indes grundsätzlich keine Anwendung auf die Vergütung der Arbeitnehmer. Die unionsrechtlich begründete Pflicht zur Messung der täglichen Arbeitszeit habe deshalb keine Auswirkung auf die nach deutschem materiellen und Prozessrecht entwickelten Grundsätze über die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess. Danach muss der Arbeitnehmer im Streitfall im Einzelnen darlegen und beweisen, dass er Arbeit in einem die Normalarbeitszeit übersteigenden Umfang verrichtet hat. Er hat vorzutragen, an welchen Tagen er von wann bis wann Arbeit geleistet oder sich auf Anweisung des Arbeitgebers zur Arbeit bereitgehalten hat, sowie dass der Arbeitgeber die Überstundenarbeit angeordnet, gebilligt oder geduldet hat. Von diesen Grundsätzen ausgehend habe das LAG laut BAG zutreffend angenommen, der Kläger habe nicht hinreichend konkret dargelegt, dass es erforderlich gewesen sei, ohne Pausenzeiten durchzuarbeiten, um die Auslieferungsfahrten zu erledigen. Die bloße pauschale Behauptung ohne nähere Beschreibung des Umfangs der Arbeiten genüge hierfür nicht.
Für Arbeitgeber bedeutet die Entscheidung des BAG zunächst erstmal: Aufatmen. Die bei gegenteiliger Entscheidung befürchtete Klagewelle wird somit wohl (vorerst) ausbleiben. Dennoch ändert die Entscheidung des BAG nichts an der Verpflichtung des Gesetzgebers, die vom EuGH konkretisierten Anforderungen an ein Arbeitszeiterfassungssystem in deutsches Recht umzusetzen. Die Ampel-Koalition hat sich eine entsprechende Umsetzung bereits im Koalitionsvertrag zum Ziel gemacht. Abzuwarten bleibt indes, wie genau die Umsetzung aussehen wird. Die Ausführungen im Koalitionsvertrag sind in dieser Hinsicht noch vage. Arbeitgebern ist bereits jetzt zu raten, sich mit dem eigenen (ggf. noch einzurichtenden) Zeiterfassungssystem zu beschäftigen und zu prüfen, ob es die vom EuGH vorgegeben Kriterien erfüllt. Arbeitnehmern, die einen Überstundenvergütungsprozess anstreben, kann das Arbeitszeiterfassungssystem zumindest helfen, das Ausmaß der Überstunden zu belegen.