Mitbestimmung Umwandlung

Die Umwandlung einer Aktiengesellschaft in eine Europäische Gesellschaft darf nicht dazu führen, dass die besonderen Beteiligungsrechte der Gewerkschaften, im Rahmen der Zusammensetzung des Aufsichtsrates, beschnitten werden.

(EuGH, Urteil vom 18. Oktober 2022, Az. C-677/20; BAG, Beschluss vom 18. August 2020, Az. 1 ABR 43/18 (A)).

Der Entscheidung des BAG zu Grunde liegender Sachverhalt

Die Arbeitgeberin ist eine Europäische Gesellschaft (Societas Europaea, SE), die bis zum Jahr 2014 als Aktiengesellschaft (AG) nach deutschem Recht organisiert war und bei der ein Aufsichtsrat im Sinne des Mitbestimmungsgesetzes (MitbestG) gebildet wurde. Dieser Aufsichtsrat setzte sich zusammen aus je acht Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer, wobei sich unter den Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer zwei Vertreter von Gewerkschaften befanden, die ihrerseits von im Konzern vertretenen Gewerkschaften vorgeschlagen und in einem getrennten Wahlgang gewählt wurden.

Seit der Umwandlung besteht der Aufsichtsrat aus 18 Mitgliedern, von denen neun Arbeitnehmervertreter sind. Die zugrunde liegende Beteiligungsvereinbarung zwischen der Arbeitgeberin und dem besonderen Verhandlungsgremium (§ 21 SEBG) sieht allerdings überdies die Möglichkeit eines verkleinerten, zwölfköpfigen Aufsichtsrates vor. Nach den Regelungen der Beteiligungsvereinbarung müssen davon sechs Arbeitnehmervertreter vertreten sein. Die auf Deutschland entfallenden Arbeitnehmervertreter werden von den in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmern gewählt, wobei es den im Konzern der Arbeitgeberin vertretenen Gewerkschaften freistünde, Wahlvorschläge zu machen. Ein getrennter Wahlgang ist für diesen verkleinerten Aufsichtsrat aber ausdrücklich nicht mehr vorgesehen.

Gegen die Wirksamkeit eben dieser Regelungen wenden sich die, im Unternehmen der Arbeitgeberin vertretenden Gewerkschaften, IG Metall und ver.di, nach deren Auffassung hierin ein Verstoß gegen § 21 Abs. 6 SEBG zu erblicken sei, da den Gewerkschaften durch die im Streit stehende Regelung der Beteiligungsvereinbarung das ausschließliche – also durch einen getrennten Wahlgang abgesicherte – Vorschlagsrecht für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat entzogen werde.

Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht wiesen Beschwerde zurück

In den Vorinstanzen hatten die beiden Gewerkschaften mit ihrer Beschwerde keinen Erfolg. Sowohl das Arbeitsgericht Mannheim als auch das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg (LAG) (Beschl. V. 09.10.2018, Az. 19 TaBV 1/18) wiesen die Beschwerde zurück.

Dem schloss sich das BAG nicht an. Obgleich das Verfahren zur Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Beteiligungsvereinbarung dem Grunde nach autonom ausgestaltet werden könne, sei bei der Gründung einer SE durch Umwandlung einer Aktiengesellschaft ein zumindest gleichbleibendes Maß an Arbeitnehmerbeteiligung sicherzustellen, § 21 Abs. 6 SEBG. Es müsse daher gewährleistet sein, dass die die Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung der Gesellschaft prägenden Elemente eines Verfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer in gleichwertigem Umfang auch in der zu gründenden SE erhalten bleiben. Eben dies umfasst nach Ansicht des BAG auch das nach § 16 MitbestG vorgesehene gesonderte Wahlverfahren für von Gewerkschaften vorgeschlagene Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat.

Ohne ein gesondertes Auswahlverfahren für die von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Kandidaten, könne gerade nicht sichergestellt werden, dass sich unter den Vertretern der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat auch tatsächlich eine von Gewerkschaften vorgeschlagene Person befindet. Dies sei aber insbesondere mit Blick auf deren Unabhängigkeit ein wichtiges Element der Meinungsbildung im Aufsichtsrat.

Offen sei nach Ansicht des BAG allerdings, wie eben diese Auslegung des § 21 Abs. 6 SEBG mit Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG (SE-Richtlinie) zur SE-Arbeitnehmerbeteiligung vereinbar sei, der seinerseits vorsehe, dass in der Vereinbarung im Falle einer durch Umwandlung gegründeten SE in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden muss, das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll. Wenn und soweit dieser unionsrechtlichen Regelung ein anderes Verständnis mit einem unionsweit einheitlichen, geringeren Schutzniveau zugrunde läge, sieht sich das BAG nach seinen Ausführungen gehalten, auch § 21 Abs. 6 SEBG in entsprechender Weise unionsrechtskonform auszulegen. Die Frage der Vereinbarkeit legte das BAG im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens dem EuGH vor.

EuGH stärkt Mitbestimmungsrechte bei Umwandlung in eine SE

Der EuGH bekräftigt im Ergebnis die Rechtsauffassung des BAG (EuGH, Urteil vom 18.10.2022, Az. C-677/20; siehe auch Pressemitteilung Nr. 169/22 vom gleichen Tag): Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86 ist dahin auszulegen, dass die Beteiligungsvereinbarung einen getrennten Wahlgang vorsehen muss, sofern das anwendbare nationale Recht einen solchen getrennten Wahlgang in Bezug auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats der Gesellschaft, die in eine SE umgewandelt werden soll, vorschreibt.

Der EuGH macht in seinen Entscheidungsgründen deutlich, dass es in den Mitgliedsstaaten unterschiedliche Ausgestaltungen hinsichtlich der Gesellschaftsformen und mithin der Regelungen über die Beteiligung von Arbeitnehmervertretern gibt. Für die Beurteilung, ob die Beteiligungsvereinbarung eine mindestens gleichwertige Beteiligung der Arbeitnehmer an der Beschlussfassung innerhalb der AG nach ihrer Umwandlung in eine SE gewährleistet, müsse demnach das nationale Recht maßgebend sein, so wie es für diese Gesellschaft vor ihrer Umwandlung in eine SE galt.

Es sei nämlich gerade nicht Intention des Unionsgesetzgebers gewesen, ein auf die SE anwendbares einheitliches europäisches Modell der Arbeitnehmerbeteiligung bereitzustellen. Durch die Gründung einer SE sollen keine Einschränkungen der Beseitigungen von Beteiligungsrechten der Arbeitnehmer zu befürchten sein. Sieht das anwendbare nationale Recht einen getrennten Wahlvorgang für, von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Kandidaten für die Zusammensetzung des Aufsichtsrates der Gesellschaft vor, die in eine SE umgewandelt werden soll, dann muss auch die für die SE geltende Beteiligungsvereinbarung einen solchen getrennten Wahlvorgang vorsehen.

Weiter weist der EuGH in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin, dass die vom Unionsgesetzgeber gewollte Garantie erworbener Rechte sich nicht nur auf die Aufrechterhaltung der erworbenen Rechte der Arbeitnehmer in der Gesellschaft beziehe, die in eine SE umgewandelt werden soll, sondern auch die Ausweitung dieser Rechte auf sämtliche Arbeitnehmer der durch Umwandlung gegründeten SE impliziert. Daraus folgt, dass das Vorschlagsrecht nicht nur deutschen Gewerkschaften vorbehalten sein dürfte, sondern auf alle in der SE, ihren Tochtergesellschaften und Betrieben vertretenen Gewerkschaften ausgedehnt werden müsse.

Ausblick für die Praxis

Das Urteil des EuGHs bringt deutliche Klarheit für die Praxis und die umstrittene Frage des Schutzes der Gewerkschaftsrepräsentanz in der SE. Auch abseits der Entscheidung des EuGHs sollen – ausweislich des Koalitionsvertrages - die Lücken in den Vorschriften zur SE und im Mitbestimmungsgesetz geschlossen und die Unternehmensmitbestimmung künftig weiterentwickelt werden.

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