Bundesarbeitsgericht: Kein Anspruch auf Durchführung eines Eingliederungsmanagements!

Das Bundesarbeitsgericht musste sich kürzlich mit der Frage auseinandersetzen, ob Beschäftigte einen eigenen einklagbaren Anspruch auf Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements („bEM“) haben.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 07.09.2021 – Aktenzeichen 9 AZR 571/20

In dem Rechtsstreit versuchte ein Beschäftigter, der im Jahr 2018 122 Tage und im Jahr 2019 86 Tage arbeitsunfähig erkrankt war, einen vermeintlichen Anspruch auf Durchführung des bEM durchzusetzen. Die Richter des BAG entschieden jedoch mit Urteil vom 7. September 2021, dass Beschäftigte keinen Individualanspruch auf Einleitung und Durchführung eines bEM haben.
In der Praxis ist die Bedeutung des bEM dennoch nicht zu vernachlässigen.

bEM dient der Wiedereingliederung und Prävention

Das BAG beschreibt das bEM wie folgt:

„Ein bEM iSv. § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX ist ein rechtlich regulierter verlaufs- und ergebnisoffener ,Suchprozess‘, der individuell angepasste Lösungen zur Vermeidung zukünftiger Arbeitsunfähigkeit ermitteln soll. Ziel des bEM ist es festzustellen, aufgrund welcher gesundheitlichen Einschränkungen es zu den bisherigen Ausfallzeiten gekommen ist, und herauszufinden, ob Möglichkeiten bestehen, sie durch bestimmte Veränderungen künftig zu verringern, um so eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu verhindern. § 167 Abs. 2 SGB IX schreibt weder konkrete Maßnahmen noch einen bestimmten Verfahrensablauf vor. Aus dem Gesetz lassen sich lediglich gewisse Mindeststandards ableiten. Zu diesen gehört es, die gesetzlich dafür vorgesehenen Stellen, Ämter und Personen zu beteiligen und zusammen mit ihnen − mit Zustimmung und Beteiligung der betroffenen Person − eine an den Zielen des bEM orientierte Klärung ernsthaft zu versuchen.“ 

Kein Anspruch trotz Vorliegen der Voraussetzungen

Die einzige Voraussetzung für die Durchführung des bEM ist gemäß § 167 Abs. 2 SGB IX, dass ein Beschäftigter innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig war. Mit dem Zeitraum, innerhalb eines Jahres, sind die letzten 365 Tage und nicht das Kalenderjahr gemeint. Weitere Voraussetzungen sieht das Gesetz nicht vor. 

Entgegen gewichtigen Stimmen in der Literatur überraschte das BAG mit der negativen Beantwortung der Frage, ob ein individueller Anspruch nach § 167 Abs. 2 SGB IX auf Durchführung des bEM besteht. 

Der Antrag des Klägers, der aufgrund seiner Schwerbehinderung deutlich mehr als die vorausgesetzten sechs Wochen arbeitsunfähig erkrankt war, wurde als unbegründet abgewiesen.
Begründet hat das Gericht seine Auffassung insbesondere mit dem Wortlaut, der Systematik und der Entstehungsgeschichte der Norm:

Aus dem Normzweck und aus der Systematik des Sozialgesetzbuches gehe hervor, dass selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen kein individueller Anspruch des Beschäftigten auf Durchführung des bEM bestehen soll. Das Gesetz mache deutlich, „dass nicht jeder Pflicht des Arbeitgebers ein entsprechender Anspruch beziehungsweise ein entsprechendes Recht des Arbeitnehmers gegenübersteht“.

Bedeutung für die Praxis: Durchführungsobliegenheit bleibt

Nach dieser Entscheidung könnte man zunächst davon ausgehen, dass das bEM keine unmittelbare Bedeutung für Arbeitgeber hat.

In der Praxis bleibt die Bedeutung des bEM insbesondere im Kontext einer krankheitsbedingten Kündigung jedoch ungebrochen.

Streng genommen ist das bEM zwar keine Wirksamkeitsvoraussetzung für eine krankheitsbedingte Kündigung, jedoch konkretisiert es den kündigungsspezifischen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und nimmt damit wesentlich Einfluss auf den Erfolg einer Kündigung im Kündigungsprozess. Hat der Arbeitgeber ein bEM gar nicht oder fehlerhaft durchgeführt, so treffen ihn im Kündigungsschutzprozess erhöhte Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast. Der Arbeitgeber muss zum Beispiel beweisen, dass der langfristig erkrankte Beschäftigte weder auf seinem bisherigen Arbeitsplatz, gegebenenfalls nach dessen befähigungsgerechter Anpassung, noch auf einem anderen, ebenfalls befähigungsgerecht angepassten Arbeitsplatz hätte weiterbeschäftigt werden können. Zudem müsste bewiesen werden können, dass künftige Fehlzeiten ebenso wenig durch gesetzlich vorgesehene Hilfen oder Leistungen der Rehabilitationsträger hätten vermieden werden können. Im Ergebnis muss der Arbeitgeber also darstellen, warum im konkreten Fall die Durchführung eines bEM die Kündigung nicht hätte verhindern können.

Dies ist in der Praxis jedoch derart schwierig, dass Arbeitgeber bereits aus eigenem Interesse ein bEM durchführen sollten, bevor sie krankheitsbedingte Kündigungen aussprechen.

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