Anscheinsvollmacht: Betriebsvereinbarung ohne Betriebsratsbeschluss wirksam

Das LAG Düsseldorf hat entschieden, dass eine Betriebsvereinbarung auch dann wirksam zustande gekommen ist, wenn der Betriebsratsvorsitzende die Vereinbarung abschließt, ohne über einen Betriebsratsbeschluss zu verfügen. 

Betriebsratsvorsitzender unterzeichnete Betriebsvereinbarung ohne
ordnungsgemäßen Beschluss

Der Entscheidung des LAG Düsseldorf vom 15. April 2021 (Az. 11 Sa 490/20) liegt ein Fall zugrunde, in dem ein Arbeitnehmer rückständigen Lohn geltend macht. Nach Auffassung des Arbeitnehmers sei er, nach den Grundsätzen einer Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 1966, in der Version von 1989 einzugruppieren und entsprechend höher zu vergüten.

Der Arbeitgeber lehnte dies ab und verwies auf eine neuere Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 2017, die BV „Entlohnung/Grundsätze“, die die bisherige Betriebsvereinbarung abgelöst habe und nach der der Arbeitnehmer korrekt eingruppiert sei. Der Arbeitnehmer hielt diese Betriebsvereinbarung jedoch für unwirksam, da der Betriebsratsvorsitzende im Jahr 2017 die Vereinbarung abgeschlossen hatte, ohne dass das dreiköpfige Betriebsratsgremium über den Abschluss einen ordnungsgemäßen Beschluss gefasst hatte.

Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts war bei dem Abschluss der Betriebsvereinbarung lediglich ein weiteres Betriebsratsmitglied zugegen. Alle Mitglieder hätten jedoch von der Vereinbarung gewusst. Einen den Abschluss bestätigenden Beschluss des Gremiums gab es weder vor dem Abschluss noch wurde ein solcher in der Folgezeit nachgeholt.

LAG: Risiko des ohne Beschluss handelnden Betriebsratsvorsitzenden liegt beim Betriebsrat

Das Landesarbeitsgericht ging dennoch davon aus, dass die Betriebsvereinbarung wirksam zustande gekommen sei. Es begründet seine Auffassung damit, dass auch auf Betriebsvereinbarungen die Grundsätze der Rechtsscheinhaftung Anwendung finden. Das heißt, der Betriebsrat muss sich den Abschluss zurechnen lassen, denn da die anderen Betriebsratsmitglieder von dem Abschluss der Betriebsvereinbarung wussten und nicht eingeschritten seien, habe der Arbeitgeber sich darauf verlassen dürfen, dass der Betriebsratsvorsitzende zum Abschluss der Betriebsvereinbarung auch bevollmächtigt sei. Es habe daher eine so genannte Anscheinsvollmacht vorgelegen. 

Eine Bindung des Betriebsrats an die vom Vorsitzenden abgeschlossene Betriebsvereinbarung tritt nach Auffassung des Landesarbeitsgerichts dann ein, wenn das Auftreten des Vorsitzenden der Mehrheit der Betriebsratsmitglieder bekannt gewesen sei oder hätte bekannt sein müssen und der Arbeitgeber gutgläubig auf den gesetzten Rechtsschein habe vertrauen dürfen.

Abweichende Entscheidung einer anderen Kammer des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf 

Mit seiner Entscheidung widerspricht die 11. Kammer des Landesarbeitsgerichts einer Entscheidung der 10. Kammer des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf (Beschluss vom 27.04.2018 – Az. 10 TaBV 64/17). 

Die 10. Kammer hatte in ihrer Entscheidung den Standpunkt vertreten, dass ein bloßer Vollmachtsanschein nicht die Konsequenz haben könne, dass eine Betriebsvereinbarung, die nicht nur zwischen den handelnden Parteien gelte, sondern auch unmittelbar normativ für die Arbeitnehmer gelte, wirksam zustande kommen könne. Denn anders als in den typischen Konstellationen der Anscheinsvollmacht treffen die Rechtswirkungen der Bindung nicht in erster Linie den Vertretenen – hier den Betriebsrat –, sondern die Arbeitnehmer. 

Dem hält die 11. Kammer entgegen, dass aber dennoch das Vertrauen des Geschäftspartners, hier des Arbeitgebers schutzwürdig sei und auch hier die „normalen“ Grundsätze der Vertrauenshaftung anzuwenden seien. Andernfalls würde der beabsichtigte Vertrauensschutz in sein Gegenteil verkehrt, denn für den Arbeitgeber bliebe ebenso wie für die Arbeitnehmer unklar, ob und in welcher Weise die von den Betriebsparteien (anscheinend) getroffenen Regelungen Geltung erlangen. Nur so könne letztlich Rechtssicherheit geschaffen werden.

Aus Sicht des Arbeitgebers ist die Entscheidung der 11. Kammer begrüßenswert, denn anders lässt sich kaum Rechtssicherheit schaffen. In Konstellationen wie der hier vorliegenden, in denen sich ein Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber auf die Unwirksamkeit einer vor mehreren Jahren abgeschlossenen Betriebsvereinbarung beruft, könnte es für den Arbeitgeber ansonsten schwer werden, einen ordnungsgemäßen Betriebsratsbeschluss zu belegen. Sich auf eine Anscheinsvollmacht zu berufen, dürfte demgegenüber einfacher sein. Gegen das Urteil der 11. Kammer wurde bereits Revision zum BAG (Az. 1 AZR 233/21) eingelegt, so dass es möglicherweise zu einer höchstrichterlichen Klärung dieser Frage kommt.

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