Sonderkündigungsschutz von schwerbehinderten Menschen

Ausspruch der außerordentlichen Kündigung auch nach Ablauf der Frist des § 626 Abs. 2 S. 1 BGB

Urteil des BAG vom 27.02.2020 - 2 AZR 390/19 


Eine nach Ablauf der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 S. 1 BGB ausgesprochene außerordentliche Kündigung ist nach § 174 Abs. 5 SGB IX dennoch wirksam, wenn sie unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung des Integrationsamtes erklärt wird. 

Erneute (außerordentliche) Kündigung nach Kenntniserlangung vom Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderung

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin erstmalig mit Schreiben vom 16. März 2016 außerordentlich fristlos aus wichtigem Grund. Erst im Nachgang, am 28. März 2016 erfuhr die Beklagte von der Klägerin, dass die Klägerin am 3. Februar 2016 beim Landesamt für Gesundheit und Soziales einen Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderung und auf Gleichstellung gestellt hatte.

Am 8. April 2016 beantragte die Beklagte daher die Zustimmung des Integrationsamtes zu einer weiteren fristlosen Kündigung. Mit Bescheiden vom 20. April 2016, eingegangen bei den Prozessvertretern der Beklagten am 22. April 2016, wurde diese Zustimmung erteilt.

Daraufhin kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 26. April 2016 erneut außerordentlich fristlos.
 
Gegen beide Kündigungen hat die Klägerin Klage erhoben, welcher das Arbeitsgericht stattgegeben hat. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
  

Außerordentliche Kündigung eines schwerbehinderten Menschen unter Umständen auch nach Ablauf der Zweiwochenfrist möglich

Die vom Bundesarbeitsgericht nur in Bezug auf die Klage gegen die Kündigung vom 26. April 2016 zugelassene Revision der Beklagten hatte Erfolg und führte zur Aufhebung und Zurückverweisung an das Landesarbeitsgericht.

Auch eine nach Ablauf der zweiwöchigen Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 S. 1 BGB ausgesprochene außerordentliche Kündigung könne nach § 174 Abs. 5 SGB IX wirksam sein, wenn sie unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung des Integrationsamts zur Kündigung erklärt werde. „Unverzüglich“ bedeute auch in diesem Zusammenhang „ohne schuldhaftes Zögern“ i.S.d. Legaldefinition des § 121 Abs. 1 BGB. Mangels existierender starrer Zeitvorgabe sei insoweit die verständige Abwägung der beiderseitigen Interessen entscheidend. Von einer Unverzüglichkeit könne nach Ablauf von mehr als einer Woche zwischen Erteilung der Zustimmung und Ausspruch der Kündigung ohne das Vorliegen besonderer Umstände nicht mehr ausgegangen werden.

Die Zustimmung des Integrationsamtes gelte als erteilt, wenn innerhalb der Frist des § 174 Abs. 3 S. 1 SGB IX eine solche Entscheidung getroffen und der Antragsteller hierüber in Kenntnis gesetzt wurde oder wenn keine Entscheidung innerhalb der Frist des § 174 Abs. 3 S. 1 SGB IX getroffen wurde und damit die Zustimmungsfiktion eintrete. Insoweit komme es allein auf die tatsächliche Kenntnisnahme des Arbeitgebers und nicht etwa auf die Zustellung der schriftlichen Zustimmung an.

Der Grund für die in § 174 Abs. 5 SGB IX geregelte Ausnahme von der Zweiwochenfrist sei, dass der Arbeitgeber die Frist in der Regel nicht wahren könne, weil er zunächst die Zustimmung des Integrationsamts zur Kündigung gem. §§ 174, 168 SGB IX einholen müsse. Die Frage, ob § 174 Abs. 5 SGB IX auch anzuwenden sei, wenn der Grund für das Versäumnis der Frist nicht auf den Besonderheiten des Sonderkündigungsschutzes beruhte, ließ das Bundesarbeitsgericht im Ergebnis offen.

Der Antrag des Arbeitgebers auf Zustimmung des Integrationsamtes müsse hingegen innerhalb der Frist des § 174 Abs. 2 SGB IX erfolgen. Die Entscheidung über die Wahrung dieser Frist obliege allein dem Integrationsamt und gegebenenfalls den Verwaltungsgerichten, nicht jedoch den Arbeitsgerichten. Solange die Entscheidung des Integrationsamts nicht nichtig oder nicht rechtskräftig aufgehoben sei, entfalte diese Wirksamkeit und binde die Arbeitsgerichte.

Planung der einzelnen Kündigungsschritte, rechtzeitige Vorbereitung des Kündigungsschreibens

Der Arbeitgeber muss im Falle der Zustimmung zur Kündigung in der Lage sein, zügig die außerordentliche Kündigung auszusprechen. Das Kündigungsschreiben sollte daher möglichst schon vorbereitet werden, sobald der Antrag auf Zustimmung beim Integrationsamt gestellt wird.

Vor Ausspruch der außerordentlichen Kündigung sollte nicht erst auf die Zustellung der schriftlichen Zustimmung gewartet werden, wenn schon vorher auf anderem Weg (z.B. telefonisch) Kenntnis über die erteilte Zustimmung erlangt wurde.

Wurde gleichzeitig die Zustimmung zu einer vorsorglich ordentlichen Kündigung beantragt, darf diese vorsorglich ordentliche Kündigung erst nach Zustellung der schriftlichen Zustimmung des Integrationsamtes erklärt werden. Gegebenenfalls sind daher zwei Kündigungsschreiben zu erstellen, wenn vor Zustellung bereits telefonisch von der Zustimmung Kenntnis erlangt wurde.

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