Verhältnis: BV / individualrechtlicher Arbeitsvertrag - Wie wirken sich individualrechtliche Ausschussfristen auf die Geltendmachung von Ansprüchen aus einer Betriebsvereinbarung aus?

Problem/Sachverhalt:

Der Arbeitgeber und der Betriebsrat können eine Betriebsvereinbarung vereinbaren, aus denen der Arbeitnehmer unmittelbar einen Anspruch herleiten kann (z. B.  Anspruch auf „Home-Office Zulage“ i. H. v. € 100,00 pro Monat).

 

Ein Problem bzgl. der Geltendmachung bzw. Durchsetzbarkeit dieser Ansprüche stellt sich dann, wenn der individuelle Arbeitsvertrag eine Ausschlussfrist vorsieht, die z. B. wie folgt lautet: „Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis oder im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis müssen innerhalb von 3 Monaten schriftlich geltend gemacht werden. (…)“. Fraglich ist dann, wie sich die arbeitsvertragliche Ausschlussfrist auf die Durchsetzbarkeit des Anspruchs aus der Betriebsvereinbarung auswirkt. Gilt nun die arbeitsvertragliche Ausschlussfrist von drei Monaten oder die betriebsvereinbarte Verjährung/Ausschlussfrist bzw. die regelmäßige Verjährung von Ansprüchen aus Betriebsvereinbarungen von 3 Jahren (§§ 195, 199 BGB)?

 

Zudem stellt sich die Frage, welches Schicksal die arbeitsvertragliche Ausschlussfrist trifft, sofern sie keine Anwendung findet. Wird diese für das zwischen den Parteien bestehende Verhältnis insgesamt unwirksam?

 

Letztlich drängt sich die Frage auf, wie sich die Ausschlussfristen im Falle der Beendigung einer Betriebsvereinbarung verhalten.

 

Verhältnis von BV und Arbeitsvertrag:

Das Gesetz sieht ausdrücklich vor, dass Betriebsvereinbarungen „unmittelbar und zwingend“ gelten, § 77 Abs. 4 S. 1 BetrVG. Zwingend bedeutet in diesem Sinne, dass die Regelung unabdingbar ist, was wiederum bedeutet, dass den Regelungen aus der Betriebsvereinbarung grundsätzlich Vorrang gegenüber den Regelungen aus dem Arbeitsvertrag eingeräumt wird, sofern es zur Regelungskonkurrenz kommt. Dieser Grundsatz findet jedoch seine Grenzen im sog. Günstigkeitsprinzip. Auch wenn dieses nicht ausdrücklich im § 77 Abs. 4 S. 1 BetrVG angeordnet ist, so wird es dennoch als ergänzendes Prinzip in den § 77 Abs. 4 S. 1 BetrVG hineingelesen (BAG Urt. vom 19.07.2016 - 3 AZR 134/15, BeckRS 2016, 73828, Rn 44).

 

Im Ergebnis bedeutet dies, dass die unmittelbare und zwingende Wirkung der Betriebsvereinbarung eine abweichende arbeitsvertragliche Regelung über den gleichen Regelungsgegenstand verdrängt, sofern diese für den Arbeitnehmer ungünstiger ist. Dies wird bei einem derartigen Fall wie dem vorliegenden, d.h. bei einer arbeitsvertraglichen Ausschlussfrist von drei Monaten, regelmäßig der Fall sein.

 

Dasselbe Ergebnis wird auch über § 77 Abs. 4 S. 4 BetrVG erreicht. Denn gemäß dieser Vorschrift sind Ausschlussfristen und Verkürzung von Verjährungsfristen, die die Geltendmachung von Rechten der Arbeitnehmer aus der Betriebsvereinbarung betreffen, nur im Rahmen dieser zulässig. Durch diese Regelung wird gerade gesichert, dass im Einzelarbeitsvertrag keine Bestimmungen getroffen werden können, durch die die Rechte der Arbeitnehmer aus einer Betriebsvereinbarung verkürzt werden (Richardi, § 77, Rn. 188).

                    

Das Schicksal der Ausschlussfrist im Arbeitsvertrag:

Fraglich ist nun, welche Auswirkungen diese vorrangige Wirkung der Betriebsvereinbarung auf das Bestehen der arbeitsvertraglichen Ausschlussfrist hat.

Die Regelung in der Betriebsvereinbarung führt nach überwiegender Ansicht zur Nichtanwendbarkeit der arbeitsvertraglichen Abrede (BAG, Urteil vom 21. September 1989, AZ: 1 AZR 454/88; Richardi, § 77, Rn. 160). Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 19.07.2016 wiederholt, dass die Kollision einer nicht günstigeren vertraglichen Vereinbarung mit den Normen einer Betriebsvereinbarung zum selben Regelungsgegenstand grundsätzlich dazu führt, dass die individualvertragliche Vereinbarung für die Dauer der Geltung der Betriebsvereinbarung verdrängt wird und damit im Arbeitsverhältnis nicht zur Anwendung gelangt (BAG, Urteil vom 19.07.2016 - 3 AZR 134/15, Rn. 65).

 

Eine die Ausschlussfristen betreffende arbeitsvertragliche Regelung stellt bei Kollision mit der Betriebsvereinbarung keinen Verstoß gegen § 134 BGB dar (a. A. Kreutz in: GK-BetrVG, § 77 Rn. 246). Denn das BAG geht selbst in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die arbeitsvertragliche Regelung lediglich „verdrängt“ wird. In demselben Urteil, in dem das BAG seine Rechtsprechung bzgl. der lediglich ablösenden Wirkung und des Anwendungsvorrangs der Betriebsvereinbarung bei Kollision mit individualvertraglichen Regelungen wiederholt (BAG, Urteil 2016 aaO), stellt es klar, dass der Arbeitnehmer gem. § 77 Abs. 4 S. 2 BetrVG nur mit Zustimmung des Betriebsrats auf Ansprüche, die ihm durch eine Betriebsvereinbarung eingeräumt werden, verzichten kann. Nur wenn diese Zustimmung fehlt, ist der individualrechtlicher Verzicht wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot nach § 134 BGB nichtig (BAG aaO, Rn 49; Nassall in: Herberger/Martinek/Rüßmann u.a., jurisPK-BGB, 7. Aufl. 2014, § 134 BGB, Rn. 70). Das BAG unterscheidet demnach deutlich zwischen einem Verstoß gegen § 77 Abs. 4 S. 2 BetrVG und der Auswirkung des § 77 Abs. 4 BetrVG auf die betreffende arbeitsvertragliche Regelung. Ein Verstoß gegen § 134 BGB sieht das BAG in diesem Fall gerade nicht vor.

 

Letztlich würde eine derartige Rechtsfolge auch schwerwiegende Folgen nach sich ziehen: Denn würde jede Regelung in einer Betriebsvereinbarung bzgl. Ausschlussfristen zu einer Nichtigkeit der arbeitsvertraglichen Regelung gem. § 134 BGB führen, so hätte es der Betriebsrat in der Hand, über sämtliche arbeitsvertragliche Ausschlussfristen der Arbeitnehmer zu entscheiden. Ein derartig weites „Machtfeld“ kann dem Betriebsrat nicht zugesprochen werden. Dies gilt insbesondere zudem unter Berücksichtig der Tatsache, dass die Ausschlussfrist auch für Ansprüche des Arbeitgebers gegen den Arbeitnehmer gilt, worüber der Betriebsrat nicht bestimmen können kann. Eine derartige betriebsverfassungsrechtliche Änderungskompetenz bzgl. der Einzelarbeitsverträge kann vom Gesetzgeber über § 77 Abs. 4 BetrVG nicht gewollt sein (vgl. ähnlich Richardi, § 77 Rn 160). Schließlich sieht auch § 87 BetrVG keine Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats in diese Richtung vor.

 

Da eine vollständige Nichtigkeit der arbeitsvertraglichen Ausschlussfrist nicht eintritt, ist nunmehr fraglich, ob die arbeitsvertragliche Ausschlussfrist nur in Bezug auf die Ansprüche aus der Betriebsvereinbarung verdrängt wird oder ob alle arbeitsvertraglichen Ansprüche, z.B. auch Urlaubsabgeltung gem. § 7 Abs. 5 BUrlG, betroffen sind und somit nicht mehr der – in der Regel kürzeren –  arbeitsvertraglichen Ausschlussfrist unterliegen.

Das BAG spricht davon, dass die Kollision einer nicht günstigeren Vereinbarung mit den Normen einer Betriebsvereinbarung zum selben Regelungsgegenstand dazu führt, dass die individualvertragliche Vereinbarung verdrängt wird und damit im Arbeitsverhältnis nicht zur Anwendung kommt (BAG 2016 aaO, Rn. 65). Daraus könnte man natürlich den Schluss ziehen, dass die nicht günstigere Vereinbarung im (gesamten) Arbeitsverhältnis nicht mehr zur Anwendung kommt.

 

Allerdings beschränkt sich der Schutz des § 77 Abs. 4 S. 4 BetrVG nicht nur wörtlich, sondern auch nach seinem Sinn und Zweck auf die Ansprüche aus der Betriebsvereinbarung und nicht auf sonstige Ansprüche.

 

§ 77 Abs. 4 S. 4 BetrVG beschränkt die Vertragsfreiheit der Parteien lediglich auf die auf einer Betriebsvereinbarung beruhenden Rechte der Arbeitnehmer. Aus diesem beschränkten Schutz kann sich nur ergeben, dass auch die verdrängende Wirkung lediglich zum Schutz dieser Ansprüche gelten kann und nicht zum Schutz anderer. Zudem würde die Nichtanwendbarkeit der vertraglichen Ausschlussfrist auf alle Ansprüche faktisch der Wirkung des § 134 BGB gleichstehen. Doch diese ist, wie bereits dargestellt, gerade nicht gewollt.

 

Letztlich spricht auch der Sinn und Zweck des Günstigkeitsprinzips gegen die abstrakte Anwendung der Verdrängung der vertraglichen Ausschlussfrist. Denn das Günstigkeitsprinzip hebt gerade das konkrete Verhältnis zwischen Betriebsvereinbarung und Arbeitsvertrag in den Vordergrund. Zwar stellt die längere Ausschlussfrist der Betriebsvereinbarung bei losgelöster Betrachtung eine für den Arbeitnehmer günstigere Variante im Sinne des Günstigkeitsvergleichs dar. Jedoch ist dieses Prinzip Ausfluss des § 77 Abs. 4 S. 4 BetrVG, sodass wiederum nur die Rechte unmittelbar aus der Betriebsvereinbarung betroffen sein können. Letztlich würde bei anderer Sichtweise wiederum das Mitbestimmungsrecht des § 87 BetrVG auf unzulässige Weise erweitert werden.

 

Folglich wird die vertraglich vereinbarte Ausschlussfrist für andere Ansprüche als solche aus einer Betriebsvereinbarung weder über den Wortlaut, noch über den Sinn und Zweck des § 77 Abs. 4 S. 4 verdrängt. Bei konkurrierender Ausschlussfristenregelung beschränkt sich der Anwendungsvorrang auf den Anspruch aus der Betriebsvereinbarung.

 

Fortwirkung der BV:

Die Kollision führt zur Verdrängung der individualvertraglichen Vereinbarung für die Dauer der Geltung der Betriebsvereinbarung (BAG, Urteil 19.07.2016, Rn. 65; Richardi, § 77, Rn. 159). Da die Betriebsvereinbarung auch bei Fortwirkung gilt dürfte das oben Gesagte für die Fortwirkung ebenfalls gelten.

 

Zudem ist das BAG bereits 1989 (Urteil vom 21. September 1989, AZ: 1 AZR 454/88) davon ausgegangen, dass „die nur auf der Betriebsvereinbarung beruhenden Ansprüche mit Wegfall der Betriebsvereinbarung etwa durch eine Kündigung entfallen, sofern nicht ausnahmsweise eine Nachwirkung eintritt.“ Das bedeutet, dass die Ansprüche aus der Betriebsvereinbarung gerade im Falle einer Nachwirkung nicht entfallen. So auch BAG, Urteil vom 28. März 2000, Az. 1 AZR 366/99.

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