Keine Unwirksamkeit bei fehlenden Soll-Angaben

Immer wieder kommt es zu gerichtlichen Streitigkeiten, die das in der Praxis äußerst fehleranfällige Verfahren zur Massenentlassungsanzeige betreffen. Grund für die hohe Fehleranfälligkeit sind oftmals die differenzierten Anforderungen der Rechtsprechung an eine korrekte Massenentlassungsanzeige. Mit der Frage, ob eine Massenentlassungsanzeige unwirksam ist, wenn sie keine Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer enthält, hat sich nun das Bundesarbeitsgericht (BAG) beschäftigt. Dieses urteilte, dass das Fehlen der in § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG genannten Angaben (sog. „Soll-Angaben“) nicht zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige führt.

Klägerin macht fehlende Angaben geltend

Die Klägerin war in dem Betrieb der Beklagten zuletzt als Mitarbeiterin im Processing beschäftigt. Die Beklagte beschäftigte in ihrem Betrieb regelmäßig mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmer. In der Zeit vom 18.06. bis zum 18.07.2019 kündigte sie insgesamt 17 Arbeitsverhältnisse. Auch der Klägerin wurde – aus betriebsbedingten Gründen – ordentlich zum 31.01.2020 gekündigt. Mit ihrer Klage machte die Klägerin u.a. geltend, die ihr am 18.06.2019 zugegangene Kündigung sei nach § 134 BGB nichtig, weil die Beklagte nicht zuvor im Rahmen der Massenentlassungsanzeige gegenüber der Agentur für Arbeit die Angaben gemäß § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG gemacht habe. Die Vorinstanzen stimmten beide der Klägerin zu und gaben ihrer Kündigungsschutzklage statt (Arbeitsgericht Frankfurt a. M., Urteil vom 16.09.2020 – 11 Ca 4532/19; Landesarbeitsgericht Hessen, Urteil vom 25.06.2021 – 14 Sa 1225/20). Gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) Hessen legte die Beklagte Revision beim BAG ein.

Das Erfordernis einer Massenentlassungsanzeige

Möchte der Arbeitgeber eine bestimmte Anzahl von Arbeitnehmern innerhalb eines kurzen Zeitraumes entlassen, so ist er nach § 17 KSchG verpflichtet, die Agentur für Arbeit hierüber in Form einer Massenentlassungsanzeige zu informieren. Diesem gesetzlichen Erfordernis liegen arbeitsmarktpolitische Ziele zugrunde. Der Agentur für Arbeit soll durch die Anzeigepflicht die Möglichkeit gegeben werden, rechtzeitige Maßnahmen zu veranlassen, mit deren Hilfe die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer in neue Arbeitsverhältnisse vermittelt werden. Ab wann von einer Massenentlassung auszugehen ist, hängt davon ab, wie viele Arbeitnehmer der Arbeitgeber in dem Betrieb beschäftigt und wie viele er innerhalb von 30 Kalendertagen zu entlassen plant. So liegt u.a. dann eine Massenentlassung vor, wenn der Arbeitgeber in seinem Betrieb mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als 5 Arbeitnehmer innerhalb von 30 Kalendertagen entlässt (§ 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 KSchG). Wenn der Arbeitgeber beabsichtigte Massenentlassungen bei der Agentur für Arbeit anzeigt, muss er dabei bestimmte Angaben machen – z.B. den Namen des Arbeitgebers, die Gründe für die geplanten Entlassungen und die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer. Neben diesen zwingenden Angaben ist in § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG der „Soll-Inhalt“ der Anzeige geregelt. Demnach sollen in der Anzeige Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer gemacht werden.

Keine Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige bei Fehlen der Soll-Angaben

Das BAG stellte nun klar, dass die Massenentlassungsanzeige nicht unwirksam ist, wenn die Soll-Angaben fehlen. Die streitgegenständliche Kündigung sei nicht nach § 134 BGB nichtig, weil die Beklagte nicht zuvor gegenüber der Agentur für Arbeit die Angaben gemäß § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG gemacht habe. Ein Verstoß gegen diese Vorschrift führe nach dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers nicht zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige. Über diese gesetzgeberische Entscheidung dürften sich die nationalen Gerichte nicht im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung hinwegsetzen. Eine solche sei im Übrigen auch nicht geboten. Durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sei geklärt, dass die in § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG vorgesehenen Angaben nicht gemäß Art. 3 Abs. 1 UAbs. 4 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen, geändert durch die Richtlinie (EU) 2015/1794 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Oktober 2015, in der Anzeige enthalten sein müssten. Das BAG hat das Urteil in der zweiten Instanz im Ergebnis also aufgehoben und die Sache zur weiteren Klärung an das LAG zurückverwiesen. Denn aufgrund der bisherigen Feststellungen lasse sich laut BAG schon nicht beurteilen, ob das Arbeitsverhältnis der Klägerin im Rahmen einer Massenentlassung gekündigt wurde. Dazu müsste die Beklagte nach § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 KSchG mehr als 5 Arbeitnehmer innerhalb von 30 Kalendertagen entlassen haben. Der Zeitraum vom 18.06. bis einschließlich 18.07.2019 umfasste aber 31 Kalendertage. Zudem sei unklar, wie viele Kündigungen in diesem Zeitraum den Arbeitnehmern zugegangen seien.

Praxishinweise

Die Entscheidung des BAG sorgt in der Praxis für große Rechtsklarheit und -sicherheit. Die Frage, ob das Fehlen der Soll-Angaben zur Unwirksamkeit einer Massenentlassungsanzeige führt, war nämlich zuvor sowohl in der rechtswissenschaftlichen Literatur als auch in der Rechtsprechung uneinheitlich beantwortet worden. Vorsorglich haben Arbeitgeber, die gut beraten waren, in der Vergangenheit auch die Anlage zur Massenentlassungsanzeige mit den Soll-Angaben ausgefüllt und dieser beigefügt, um kein unnötiges Risiko einzugehen. Im Gegensatz zum LAG Hessen hatte hingegen etwa das LAG Düsseldorf kürzlich in einem vergleichbaren Fall angenommen, dass fehlende Soll-Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit i. S. v. § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG nicht zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige führen (Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 15.12.2021 – 12 Sa 349/21). Dieser Rechtsansicht ist zuzustimmen. „Soll“ heißt nun mal „Soll“ und nicht „Muss“. Der Gesetzgeber hat bei der Umsetzung der Massenentlassungs-Richtlinie klar zwischen diesen beiden Handlungsvorgaben differenziert und durfte dies – im Einklang mit dem Unionsrecht – auch tun. Diese gesetzgeberische Entscheidung dürfen die Gerichte nicht mittels einer richtlinienkonformen Auslegung umgehen.

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