Bundesjustizministerium legt ersten Gesetzesentwurf zur neuen deutschen Sammelklage vor – Öffnet Deutschland damit die gefürchtete Büchse der Pandora?

Die Mitgliedstaaten müssen die EU-Verbandsklagenrichtline (Richtlinie (EU) 2020/1828 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2020) bis zum 25. Dezember 2022 in nationales Recht umgesetzt haben. Zur Anwendung soll das so neu geschaffene Recht dann sechs Monate später kommen, also ab dem 25. Juni 2023. Das Bundesjustizministerium hat nun einen ersten Gesetzesentwurf vorgelegt, der einen Einblick in die neue deutsche Sammelklage gibt. Das Novum dieser Sammelklage wird die sog. „Abhilfeklage“ sein, eine kollektive Leistungsklage, mit deren Hilfe Verbraucher (durch einen klagebefugten Verband) in einem einstufigen Verfahren von dem beklagten Unternehmen direkt Leistung in Form von Zahlung, Nacherfüllung wie Reparatur, Ersatzleistung, Preisminderung, Vertragsauflösung oder Erstattung des gezahlten Preises verlangen können.

Damit geht die neue Abhilfeklage in einem entscheidenden Punkt über die bisherigen, nur auf Feststellung und auf Unterlassung gerichteten, kollektiven Klagen in Deutschland hinaus. Der langatmige Umweg über die zunächst kollektiv zu erreichende Feststellung, dass ein Unternehmen Verbraucherrechte verletzt hat, und die im Anschluss durch den einzelnen betroffenen Verbraucher aber zwingend noch zu erhebende Individualklage ist dann passé. Der Gesetzesentwurf sieht zwar vor, dass die Musterfeststellungsklage in die Abhilfeklage integriert werden soll. Der Verbraucher bzw. der für ihn klagende Verband hat daher zukünftig die Wahl, ob er mit einer Abhilfeklage auf Leistung oder mit einer Musterfeststellungsklage auf Feststellung klagt. Der praktische Anwendungsbereich für die Musterfeststellungsklage wird sich vermutlich jedoch deutlich verkleinern.

Das neue Gesetz soll den Namen Verbandsklagenrichtlinienumsetzungsgesetz (VRUG) tragen und den Verbraucherschutz massiv stärken. Es sind dabei praktisch sämtliche Verbrauchervorschriften umfasst, von der Verbraucherrechterichtlinie über die Geldmarktfondsverordnung bis hin zur Datenschutzgrundverordnung.

Die Zuständigkeit für die deutsche Sammelklage wird bei den Oberlandesgerichten liegen, in dessen Bezirk das beklagte Unternehmen seinen Sitz hat. Damit folgt der Gesetzesentwurf der für andere in Deutschland bereits bestehende „Sammelklage“-Arten (bspw. Klagen nach dem KapMuG sowie die 2018 neu eingeführte Musterfeststellungsklage) etablierten Zuständigkeitszuweisung.

Mit der Sammelklage werden viele Schwierigkeiten importiert, die mit US-Sammelklagen verbunden sind. Es stellt sich die Frage, wie Gerichte ohne Beurteilung des Einzelfalls Schadensersatz für eine Vielzahl von Fällen zusprechen sollen. Das auf drei Phasen angelegte Verfahren (Abhilfegrundurteil, Vergleich, Abhilfeendurteil) zeigt dabei deutlich, dass es letztlich, wie in den USA, auf Vergleichsverhandlungen und oftmals vermutlich auch einer vergleichsweisen Beendigung des Verfahrens hinauslaufen wird.

Der von vielen Unternehmen im Vorfeld befürchteten Einführung der US-amerikanischen „class action“ scheint der Entwurf jedoch eine Absage zu erteilen. So wurde beispielsweise von der in der Richtlinie vorgesehenen Möglichkeit der Einführung von Offenlegungspflichten für beweisrelevante Dokumente abgesehen. Neu ist allerdings ein Sanktionsmechanismus, mit dem bei Nichtbefolgen einer gerichtlichen Anordnung zur Vorlage bestimmter Dokumente ein Bußgeld verhängt werden kann. Anders als in den USA sind in Deutschland nur bestimmte Verbände zur Durchsetzung von Verbraucherinteressen befugt. Ein einzelner Verbraucher kann sich nicht zum Repräsentanten einer Vielzahl von Verbrauchern aufschwingen. Diese Regelung soll vermutlich verhindern, dass die Sammelklage als Geschäftsmodell missbraucht wird. Des Weiteren müssen für eine Abhilfeklage mindestens 50 betroffene Verbraucher zusammenkommen und sich zu einer Klage zusammenschließen. Ist diese Schwelle erreicht, können andere betroffene Verbraucher ihre Ansprüche im Verbandsklageregister des Bundesamtes für Justiz anmelden (sog. Opt-in). Neu ist auch, dass neben Verbrauchern auch kleine Unternehmen, die weniger als 50 Beschäftigte und einen Jahresumsatz von weniger als EUR 10 Mio. haben (über die sog. qualifizierten Einrichtungen) klagen dürfen.

 

Die Fälle der Verbraucher müssen „gleichartig“ gelagert sein, sodass das Gericht über alle Fälle gebündelt in einem einzigen Verfahren entscheiden kann, ohne individuellen Besonderheiten Rechnung tragen zu müssen. Im Entwurf heißt es, über alle mit der Klage geltend gemachten Verbraucheransprüche solle das Gericht gleichsam „schablonenhaft“ entscheiden können. Und genau hierin wird vermutlich die Schwierigkeit der Abhilfeklage in der Praxis liegen. Sind beispielsweise nicht alle Produkte einer Serie mangelhaft, so dass im Einzelfall jeweils geklärt werden muss, ob das konkret erworbene Produkt tatsächlich mangelhaft ist oder nicht, soll das Klageinstrument nicht in Betracht kommen.

Haben Klagepartei und beklagtes Unternehmen den Rechtsstreit nicht vergleichsweise beilegen können, fällt das Gericht das bereits erwähnte Abhilfeurteil. Vorgesehen ist, dass das Gericht die Höhe des kollektiven Gesamtbetrags unter Würdigung aller Umstände nach frei bestimmt. Je konkreter die Anhaltspunkte des klagenden Verbandes, desto abschätzbarer wird die Höhe der Verurteilung für das betroffene Unternehmen.

Die „Vollstreckung“ dieses Urteils soll in der Form erfolgen, dass das Unternehmen die Leistung, zu der es verurteilt wurde, in einen sog. „Umsetzungsfonds“ einzahlt. Das Gericht bestellt dann einen Sachwalter, der dafür sorgt, dass die Verbraucher entschädigt werden, indem er das Geld unter ihnen aufteilt oder die Umsetzung anderer Abhilfemaßnahmen regelt.

Die Abhilfeklage soll zudem auch grenzüberschreitend innerhalb der EU möglich sein. So sollen auch qualifizierte Einrichtungen aus anderen Mitgliedstaaten, die die dortigen Voraussetzungen erfüllen und im neuen europäischen Verzeichnis eingetragen sind, in Deutschland klagebefugt sein – gegebenenfalls sogar als grenzüberschreitende Streitgenossen mit Verbänden aus anderen Mitgliedsstaaten.

Die Anmeldung zum Verbandsklageregister ist kostenlos. Verbraucher sowie kleine Unternehmen tragen daher kein eigenes Prozessrisiko. Damit der klagende Verband den Prozess dennoch finanzieren kann, sind Prozessfinanzierer ausdrücklich zugelassen. Dies gilt jedenfalls so lange, wie der Prozessfinanzierer nicht im Wettbewerb zu dem verklagten Unternehmen steht.

Hat Deutschland mit seiner Umsetzung der EU-Verbandsklagenrichtlinie damit die gefürchtete Büchse der Pandora geöffnet? Oder erweist sich v.a. die neue Abhilfeklage eher als Papiertiger? Tatsächlich erscheint es derzeit wenig wahrscheinlich, dass sich in einem derart streng regulierten Bereich die befürchtete Klageindustrie entwickeln können wird. Nicht nur die Beschränkung der Klagebefugnis auf qualifizierte Einrichtungen, d.h. unabhängige, nicht-kommerzielle Verbraucherschutzverbände mit entsprechender staatlicher Zulassung und Kontrolle, sondern auch das Erfordernis der Gleichartigkeit der Ansprüche werden vermutlich verhindern, dass Unternehmen bald mit Sammelklagen überschwemmt werden. Zunächst bleibt abzuwarten, welche Änderungen das VRUG bis zum Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens noch erfährt. Darüber hinaus werden in Zukunft nicht zuletzt auch die deutschen Gerichte durch ihre Rechtsprechung dieses neue Instrument der Rechtsdurchsetzung formen.

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