Betriebsrat kann Einführung einer elektronischen Zeiterfassung verlangen

Der Betriebsrat hat bei der Einführung eines elektronischen Zeitsystems ein Initiativrecht. Damit ist das Landesarbeitsgericht Hamm (LAG Hamm) der Rechtsauffassung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) entgegengetreten.

LAG Hamm, Urteil vom 27.07.2021 – Aktenzeichen 7 TaBV 79/20

Streit in einer vollstationären Eingliederungshilfe zwischen Arbeitgebern und Betriebsrat

Hintergrund dieser Entscheidung war eine fehlende Einigung der Parteien über eine Betriebsvereinbarung zur elektronischen Arbeitszeiterfassung. Zwar wurde zuvor im Jahre 2018 eine Einigung mittels Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit mit dem Arbeitgeber geschossen, allerdings kamen Betriebsrat und Arbeitgeber bei der Einführung einer elektronischen Zeiterfassung nicht auf den gleichen Standpunkt. Aus diesem Grund wurde ein Einigungsstellenverfahren eingeleitet, in welchem das Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung einer elektronischen Zeiterfassung im Sinne des § 87 Abs. 1 Nr. 6 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) durch den Arbeitgeber gerügt wurde. Das Einigungsstellenverfahren wurde sodann ausgesetzt. 

Das Arbeitsgericht Minden sprach im vorliegenden Fall dem Betriebsrat ein Initiativrecht ab, wobei es sich argumentativ größtenteils auf die Entscheidung des BAG vom 28.11.1989 bezog. Danach stellt § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ein reines Abwehrrecht und kein Mitbestimmungsrecht dar. Folglich kann der Betriebsrat auf dessen Grundlage die Einführung einer technischen Kontrolleinrichtung nicht verlangen. 

§ 81 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ist mehr als ein bloßes Abwehrrecht 

Der Betriebsrat stützte seine Ansicht unter anderem auf die aktuelle Rechtsprechung des EuGH, wonach aufgrund Art. 31 Abs. 2 der EU-Grundrechtscharta ein System zur Arbeitszeiterfassung verpflichtend im Betrieb vorhanden sein muss, welches die Kriterien Objektivität, Verlässlichkeit und Zugänglichkeit erfüllt.  Der Gefahr von möglicherweise unbezahlten Überstunden oder Verkürzung von Ruhepausen der Arbeitnehmer kann nur durch ein die Arbeitszeit erfassendes elektronisches System entgegengetreten werden.

Durch die zunehmende Digitalisierung und den durch die Arbeitszeiterfassung etablierten Gesundheitsschutz wird häufig durch die Arbeitnehmerseite sogar die Einrichtung eines solchen Systems erwünscht, sodass einem Eingriff in deren Persönlichkeitsrecht deutlich weniger Gewicht zukommt. Indem die Arbeitsgeber die Verhandlungen über die Einführung des Systems abbrechen können, wird das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats letztendlich entwertet.

Initiativrecht bei der Einführung von technischen Einrichtungen

Dieser Ansicht hat sich das LAG Hamm in zweiter Instanz angeschlossen. Für die Annahme eines Initiativrechts des Betriebsrats spricht eindeutig der Wortlaut des Gesetzes. Demnach wird bereits im Eingangssatz der Norm der Wortlaut „mitzubestimmen“ gewählt. Im Zusammenspiel mit der Wortwahl in § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG „Einführung“ wird das Initiativrecht des Betriebsrats bei der Einführung von technischen Einrichtungen untermauert. Der Begriff „Mitbestimmung“ ist letztendlich ein Recht auf Mitgestaltung auf Augenhöhe im Wege gleichwertiger Verhandlungspartner. Im Vergleich zu § 99 Abs. 2 und 3 BetrVG stellt die Mitbestimmung nach § 87 BetrVG kein reines Vetorecht dar. Diese Ansicht steht auch im Einklang mit der Auffassung des BAG, welches bereits im Jahre 2004 ausdrücklich festgehalten hat, dass § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG auch die Entscheidung des „ob“ einer Anschaffung mitumfasst. 

Der Sinn und Zweck des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats besteht im Schutz der Arbeitnehmer. Nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers bei Schaffung der Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten nach § 87 Abs. 1 BetrVG sollte bewusst nicht zwischen Mitbestimmungsrechten mit Initiativrecht und solchen ohne Initiativrecht differenziert werden.  Durch einen Vergleich der Formulierung des Mitbestimmungsrechts bei Sozialeinrichtungen gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 8 BetrVG, wonach lediglich deren Form, Ausgestaltung und Verwaltung der Mitbestimmung des Betriebsrats bedürfen, wird deutlich, dass die Wortwahl „Einführung“ und die fehlende Einschränkung in § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ausdrücklich von einem Initiativrecht des Betriebsrats bei technischen Einrichtungen ausgeht. Der Betriebsrat kann somit bei der Einführung von technischen Einrichtungen Verhandlungen aufnehmen und verlangen. Entscheidend für die Beurteilung, ob ein Initiativrecht besteht oder nicht, ist somit die jeweilige Formulierung der in § 87 Abs. 1 BetrVG aufgezählten Mitbestimmungsrechte. Europarechtliche Fragestellungen waren für das LAG Hamm in dieser Sache jedoch nicht entscheidungserheblich. 

Paukenschlag aus Hamm

Durch die Entscheidung des LAG Hamm wird Betriebsräten eine weitreichende Freiheit eingeräumt. Da unter das Mitbestimmungsrecht des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG alle technischen Einrichtungen fallen, die zur Überwachung der Arbeitgeber geeignet sind, kann der Betriebsrat dem Unternehmen faktisch so gut wie jede technische Einrichtung aufzwingen. Dies liegt sicherlich nicht im Interesse der Arbeitgeber. Der EuGH hat in seiner Entscheidung offengelassen, wie die Arbeitszeit erfasst wird, sodass letztendlich auch eine Arbeitszeiterfassung in Papierform möglich wäre, solange diese den aufgestellten Kriterien genügt. Hat der Betriebsrat nun ein Initiativrecht im Rahmen des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG, wird es wohl zu einem faktischen Zwang der Unternehmen kommen, eine elektronische Zeiterfassung einzuführen.  

Rechtsbeschwerde beim Bundesarbeitsgericht bereits eingelegt

Aufgrund der Abweichung von der jahrzehntelangen praktizierten Rechtsprechung wurde eine Rechtsbeschwerde bereits eingelegt. Es bleibt abzuwarten, ob das Bundesarbeitsgericht seiner bisherigen Linie treu bleibt.

 

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