Was bisher eine absolute Ausnahme war, könnte schon bald gängige Realität werden – Gerichtsverfahren via Videokonferenz, um die gerichtliche Funktionsfähigkeit während der Zeit der Corona-Pandemie zu gewährleisten. Täglich kommen neue Berichte von begeisterten Richtern, Anwälten und Parteien über Verfahren, die bereits per Videokonferenz – ohne physische Anwesenheit sämtlicher Beteiligter im Gerichtssaal – abgehalten wurden, dazu.
Auch die Politik ist nicht untätig: Am 14. Mai 2020 hat die FDP-Fraktion dem Bundestag einen Antrag vorgelegt, der vor dem Hintergrund des Coronavirus anregt, vermehrt virtuelle Gerichtsverfahren durchführen zu lassen. Unter Änderung der Zivilprozessordnung soll ermöglicht werden, Verhandlungen auf Antrag der Parteien verpflichtend im Wege der Bild- und Tonübertragung stattfinden zu lassen. Speziell für Verhandlungen vor den Arbeits- und Sozialgerichten wird mit dem Referentenentwurf vom 9. April 2020 eine Ergänzung zum weiteren Ausbau virtueller Verfahren angestrebt. Bisher ermöglicht die Regelung des § 128a ZPO nicht, dass solche Verfahren allein aufgrund eines Parteiantrags verpflichtend durchgeführt werden.
Technische Voraussetzungen (noch) unklar
Während Kanzleien wohl technisch hinreichend für eine virtuelle Verhandlung gewappnet sein dürften, könnte die derzeit mangelnde Ausstattung der Gerichte zum Hindernis virtueller Sitzungen werden. Schließlich benötigt das Gericht im jeweiligen Sitzungszimmer ausreichend Bildschirme und Kameras. Eine, den Anforderungen gerecht werdende, technische Ausstattung findet man bisher in Deutschland nur an den Oberlandesgerichten und vereinzelt an Landgerichten. Die ordentlichen Gerichte sind derzeit (technisch) noch nicht bereit flächendeckend, virtuelle Verfahren durchzuführen. Etwaige Videokonferenzanlagen können gegenwärtig nur im Rahmen eines Ausweichens auf die Örtlichkeiten eines Gerichts stattfinden, welches über die entsprechende Anlage verfügt.
Neben dem Erfordernis der ausreichenden Ausstattung mit der entsprechenden Hardware stellt sich ferner die entscheidende Frage nach der anwendbaren Software. Eine eigens für die deutsche Gerichtsbarkeit erstellte Software (ähnlich dem beA) besteht (derzeit noch) nicht. Mit Blick auf die gängigen, kommerziellen Lösungen (z.B. Microsoft Teams, Slack oder Webex) muss stets – neben u.a. (datenschutz-)rechtlichen Bedenken – stets die Frage nach der Zugriffsmöglichkeit für die Beteiligten beantwortet werden.
Im Referentenentwurf vom 9. April 2020 ist die Rede von einer kostenlosen Software/App, die sowohl Bürgern als auch Rechtsanwälten für die Teilnahme an virtuellen Gerichtsverhandlungen zur Verfügung gestellt werden soll. („Für die Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung mittels Videokonferenz ist die Installation einer entsprechenden kostenlosen Software/App erforderlich.“ – S. 13 Referentenentwurf) Zu Gestaltung, Veröffentlichung, Zugänglichkeit und Handhabung einer solchen App ist bisher noch nichts Näheres bekannt.
Gerichtsvielfalt = Regelungsvielfalt?
Das Angebot bzw. die Umsetzung virtueller Verfahren ist bisher eine Angelegenheit der einzelnen Gerichte. Insofern ist wohl, bis zum Erlass einer allgemeingültigen Regelung, die Absprache über ein Verfahren mittels Bild- und Tonübertragung mit dem jeweils zuständigen Gericht zu treffen.
In der Praxis findet inzwischen zum Teil ein Rückgriff auf kommerzielle Videotelefonie-Anbieter statt. Die Gerichte (inklusive des BGH) sind mittlerweile teilweise dazu übergegangen, Terminsverlegungsanträge abzulehnen und im Einklang mit § 128a ZPO, die „virtuelle Verhandlung“ beispielsweise mittels Microsoft Teams anzuordnen. Erst kürzlich hat ein Bird & Bird Team eine Patentstreitigkeit vor dem BGH mittels der Verwendung dieser Software erfolgreich durchgeführt. Dabei hatte der BGH es als angemessen und zumutbar erachtet, von den Möglichkeiten [kommerzieller] Videokonferenztechnik Gebrauch zu machen, da Microsoft Teams auf einer Vielzahl von Plattformen lauffähig sei und insbesondere auch mit Geräten genutzt werden könne, die nicht in ein sicherheitsrelevantes Unternehmensnetzwerk eingebunden sind.
Anordnung virtueller Verfahren nach Maßgabe von § 128a ZPO
Für Verhandlungen im Wege der Bild- und Tonübertragung nach 128a ZPO gilt bisher die Schranke der Unmittelbarkeit: Nur soweit das Gericht keine Notwendigkeit für ein persönliches Erscheinen sieht, kann auf die persönliche Anwesenheit der Beteiligten verzichtet werden.
Die virtuelle Verhandlung kann auf Antrag eines der Beteiligten oder auf Anordnung des Gerichts von Amts wegen erfolgen. Auch bei Vorliegen der Gestattung zum virtuellen Verfahren nach § 128a ZPO bleibt es den Parteien weiterhin möglich, persönlich zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen. Eine Pflicht zur Teilnahme durch Videokonferenz besteht nicht. Sollte einer Partei die Teilnahme am virtuellen Verfahren mittels der vom Gericht vorgeschlagenen Software nachweisbar nicht möglich sein, so muss eine andere Software-Lösung gefunden werden, um den Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör nicht zu verletzen.
Sollte eine gerichtseigene Software nicht zur Verfügung stehen, kann das Gericht auf kommerzielle Anbieter zurückgreifen, soweit diese die Teilnahme aller Parteien hinreichend sicher gewährleisten und insbesondere auf einer Vielzahl von Plattformen lauffähig sind. Ist eine zeitgleiche Bild- und Tonübertragung nicht möglich oder wird aus (technischen) Gründen gestört, muss der Vorsitzende die mündliche Verhandlung unterbrechen. Anderenfalls käme ein Verstoß gegen den Grundsatz der Mündlichkeit und den Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör in Betracht.
Die Öffentlichkeit ist nur am Gerichtsort, nicht aber am Aufenthaltsort der per Videokonferenz zugeschalteten Beteiligten herzustellen. Es ist zumindest erforderlich, dass die interessierte Öffentlichkeit der zeitgleichen Tonübertragung folgen kann. Eine Einwilligung der Zuhörer bedarf es nicht, weil es an einem öffentlichen Verbreiten und einer Aufzeichnung fehlt. Ein Hinweis der Zuhörer auf die Videokonferenz bietet sich dennoch an. Ein „Einwählen“ in die Konferenz von außerhalb des Gerichtssaals ist nicht möglich und zur Gewährleistung der Öffentlichkeit der Verhandlung auch nicht nötig. Insbesondere durch die Konferenzschaltung bleibt die Möglichkeit der Kontrolle justizieller Verfahren durch die Öffentlichkeit erhalten.
Erscheint eine Partei trotz ordnungsgemäßer Ladung weder am Ort der Videoübertragung noch am Gerichtsort, kann (schlimmstenfalls) sogar ein Versäumnisurteil die Folge sein.
Vor- und Nachteile virtueller Verhandlungen
Virtuelle Verfahren sollen eine Erweiterung der Verhandlungsmöglichkeiten des Gerichts ermöglichen und insbesondere im Rahmen der aktuellen Pandemiesituation die Funktionsfähigkeit des Gerichtes unter gleichzeitiger Gewährleistung des Gesundheitsschutzes gestatten.
Positive Effekte solcher Verhandlungen sind unter anderem:
Die voranschreitende Entwicklung birgt jedoch einige praktische Hürden:
Verhaltenstipps für die virtuelle Verhandlung
Kommt es zu einer Verhandlung im Rahmen einer Bild- und Tonübertragung, ist unter anderem Folgendes zu beachten:
Ausblick
Die vorgeschlagene Digitalisierung des Gerichtsverfahrens ist als Chance zu sehen. Damit ein möglichst störungsfreies Verhandeln ermöglicht wird, müssen jedoch vor allem die technischen Voraussetzungen, sowohl seitens der Parteien als auch der Gerichte, gewährleistet sein. Vor allem für Letztere besteht noch Handlungsbedarf bezüglich des Ausbaus einer flächendeckenden IT Infrastruktur.
Inwiefern sich eine Anpassung der Zivilprozessordnung hinsichtlich einer digitalen Gerichtsbarkeit durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Eine Änderung des § 128a ZPO in Bezug auf erweiterte Anordnungsmöglichkeiten eines virtuellen Verfahrens insbesondere unter Berücksichtigung des Referentenentwurfs vom 9. April 2020 und des Antrags der FDP-Fraktion vom 14. Mai 2020 erscheint durchaus wahrscheinlich.
Inwieweit virtuelle Gerichtsverfahren zum Regelfall werden und mündliche Verhandlungen mit körperlicher Anwesenheit der Parteien im Gerichtssaal perspektivisch (vollständig) ersetzen, wird die Praxis zeigen. Fest steht: Ein persönlicher Auftritt entfaltet weiterhin eine andere Wirkung als die bloße Anwesenheit auf dem Bildschirm des Gegenübers.