Erschütterung des Beweiswertes einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei Verstoß gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie

Im vergangenen Jahr hat sich das Bundesarbeitsgericht (BAG) im Urteil vom 28. Juni 2023 mit dem Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung befasst, speziell mit der Frage, ob der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Falle eines Verstoßes gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie erschüttert sein kann.

BAG, Urteil vom 28. Juni 2023 – 5 AZR 335/22

Voraussetzungen einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Entgeltfortzahlung

Der Anspruch des Arbeitnehmers auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall besteht nach § 3 Abs. 1 S. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) für die Dauer von sechs Wochen, wenn er infolge einer Krankheit unverschuldet arbeitsunfähig wird. Die Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen der Entgeltfortzahlung liegt beim Arbeitnehmer. Diesen Beweis kann er in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB) i.S.d. § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG führen, die - sofern sie ordnungsgemäß ausgestellt wurde - das gesetzlich vorgesehene und wichtigste Beweismittel einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit (AU) ist. Diesen gesetzlich vorgegebenen hohen Beweiswert der AUB kann der Arbeitgeber nur erschüttern, indem er tatsächliche Umstände darlegt und beweist, die konkrete Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers begründen.

Arbeitgeber verweigert Entgeltfortzahlung aufgrund Verstoßes gegen Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie

In dem vom BAG entschiedenen Fall endete das Arbeitsverhältnis der Parteien aufgrund ordentlicher Kündigung der verklagten Arbeitgeberin zum 30. September 2020. Für die Zeit vom 7. September 2020 bis zum 30. September 2020 hatte der klagende Arbeitnehmer zwei AUB vorgelegt, eine Erstbescheinigung vom 7. September 2020 bis zum 20. September 2020 und eine Folgebescheinigung vom 21. September 2020 bis zum 30. September 2020. 

Die Beklagte verweigerte die Entgeltfortzahlung für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit mit der Begründung, die AUB sei nicht entsprechend den Vorgaben der „Richtlinie des gemeinsamen Bundesausschusses über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung nach § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 7 SGB V“ (Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie) ausgestellt worden. § 5 Abs. 1 S. 4 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie sieht vor, dass attestierte Symptome (z.B. Fieber, Übelkeit) nach spätestens sieben Tagen durch eine Diagnose oder Verdachtsdiagnose ersetzt werden müssen. Im streitgegenständlichen Fall hatte der Kläger seine Ausfertigungen der Bescheinigungen in den Prozess eingebracht, die als die AU-begründende Diagnose (ICD-10-Code) in beiden relevanten Bescheinigungen einen Gelenkschmerz in der rechten Schulter attestierten. Die verklagte Arbeitgeberin behauptete, dass es sich bei einem Schulterschmerz lediglich um eine Symptombeschreibung handele, die nach spätestens sieben Tagen entsprechend der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie durch eine Diagnose oder Verdachtsdiagnose habe ausgetauscht werden müssen. 

Da dies nicht geschehen war, sah die Beklagte einen Verstoß gegen § 5 Abs. 1 S. 4 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie, aufgrund dessen der Beweiswert der AUB erschüttert sei. Die Beklagte vertrat daher die Ansicht, nicht zur Entgeltfortzahlung verpflichtet zu sein. 

BAG: Beweiswert kann durch Verstoß erschüttert werden

Das BAG entschied auf die Revision der Beklagten hin, dass Verstöße gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie durchaus im Einzelfall geeignet sein können, den Beweiswert einer AUB zu erschüttern. Zwar sei die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie für die Parteien des Arbeitsverhältnisses nicht verbindlich und das Entgeltfortzahlungsgesetz stelle in § 5 Abs. 1 S. 2 eigene Anforderungen dahingehend auf, welche Informationen eine Bescheinigung in Bezug auf die Arbeitsunfähigkeit enthalten müsse. 

Für die Bestimmung, ob die AU „ordnungsgemäß“ i.S.d.  § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG ausgestellt wurde, seien somit nicht alle Bestimmungen der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie relevant. Während lediglich formale Vorgaben, die nur das Verhältnis zwischen Vertragsärzten und Kassen regeln, wie Formulare und Angaben für die Abrechnung, für die Prüfung des Beweiswertes keine Rolle spielten, könnten Verstöße gegen Regelungen der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie, die auf medizinischen Erkenntnissen zur sicheren Feststellbarkeit der Arbeitsunfähigkeit beruhen, nach den Umständen des Einzelfalls durchaus geeignet sein, den Beweiswert einer AU zu erschüttern.

Denn diese Bestimmungen würden auf Erfahrungsregeln fußen und somit den allgemein
anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse wiedergeben.

Pflicht zur Aufstellung einer kodierten Diagnose

Die Verpflichtungen der Vertragsärzte in § 5 Abs. 1 S. 3 und S. 4 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie eine nach ICD-10 kodierte Diagnose an die Krankenkasse zu übermitteln und zuvor aufgestellte Symptome nach spätestens sieben Tagen durch eine Diagnose oder Verdachtsdiagnose auszutauschen, würden zwar primär der Abrechnung vertragsärztlicher Leistungen im Kassensystem dienen und daher zunächst für die ordnungsgemäße Ausstellung einer AUB nach dem EFZG keine Rolle spielen.

Dennoch könne ein Verstoß gegen § 5 Abs. 1 S. 4 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie in Zusammenschau mit dem vom Arzt angegebenen ICD-10-Code und der jeweiligen Dauer der Arbeitsunfähigkeit Zweifel an der Richtigkeit der Bescheinigung begründen. Ein solcher Verstoß könne nach Ansicht des BAG von Anfang an Auswirkung auf den Beweiswert der gesamten Bescheinigung haben.

Allerdings sah das BAG im vorliegenden Fall den Entgeltfortzahlungsanspruch des Arbeitnehmers dennoch für gegeben - und zwar aus dem Grund, dass schon kein Verstoß gegen § 5 Abs. 1 S. 4 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie vorläge. Denn die kodierte ärztliche Feststellung eines Schultergelenkschmerzes enthalte eine Schlüsselnummer, die sowohl nach Kapitel als auch nach Untergruppe des ICD-10-Systems eine Krankheit darstellen könne. 

Praxishinweise

Da die Ausfertigung einer AUB für den Arbeitgeber keine Angaben zur Ursache der AU und der zugrundeliegenden Erkrankung enthält, spielt die Rechtsprechung des BAG nur dann eine Rolle, wenn sich der Arbeitnehmer, wie im vorliegenden Fall, freiwillig zu der Diagnose erklärt und diese selbst ins Verfahren einführt. Für den Arbeitgeber kann sich daher in zukünftigen Kündigungsschutzprozessen ein Blick auf den Diagnoseschlüssel lohnen. Je nach Gesamtschau der Einzelumstände, wie Dauer der Arbeitsunfähigkeit und der Bedeutung des ICD-10-Codes, können Verstöße gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie den Beweiswert der Bescheinigung erschüttern und zu einem Verlust des Entgeltfortzahlungsanspruchs seitens des Arbeitnehmers führen. 

 

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