Rentennähe bei Sozialauswahl berücksichtigungsfähig

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat die Gewichtung der bei einer durchzuführendenden Sozialauswahl zu berücksichtigenden Kriterien präzisiert.

Es hat klargestellt, dass der kurz bevorstehende Renteneintritt zu Lasten von Arbeitnehmer:innen berücksichtigt werden kann.

BAG, Urteil vom 8. Dezember 2022 – 6 AZR 31/22

Arbeitgeber hat grundsätzlich Wertungsspielraum

Ein Insolvenzverwalter kündigte einer 63-jährigen Arbeitnehmerin, nachdem er einen Interessenausgleich mit Namensliste mit dem bestellten Betriebsrat geschlossen hatte. Der Insolvenzverwalter begründete die Auswahl der Arbeitnehmerin damit, dass sie in ihrer Vergleichsgruppe sozial am wenigstens schutzwürdig sei, da sie als einzige die Möglichkeit habe, zeitnah im Anschluss an das beendete Arbeitsverhältnis eine Altersrente für besonders langjährig Beschäftigte gemäß §§ 38, 236b SGB VI zu beziehen. Daher falle sie hinter alle anderen vergleichbaren Arbeitnehmer zurück. Rein vorsorglich kündigte der Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis nach weiteren Verhandlungen über einen Interessenausgleich mit Namensliste mit dem Betriebsrat wegen der zwischenzeitlich beabsichtigten Betriebsstilllegung nach Ausproduktion erneut. Gegen beide Kündigungen erhob die Arbeitnehmerin Kündigungsschutzklage.

Auswahl ausschließlich wegen Rentennähe unzulässig

Das BAG hat entschieden, dass lediglich die zweite Kündigung wirksam ist. Bei einer betriebsbedingten Kündigung hat die Auswahl der zu kündigenden Arbeitnehmer grundsätzlich anhand der in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG genannten Kriterien, der Dauer der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung, zu erfolgen. Die Rentennähe darf dabei nach der Entscheidung des BAG zwar bei der Sozialauswahl bezogen auf das Kriterium „Lebensalter“ zu Lasten der betroffenen Arbeitnehmerin berücksichtigt werden. Das Gericht betont, dass es Sinn und Zweck der sozialen Auswahl sei, unter Berücksichtigung der im Gesetz genannten Auswahlkriterien gegenüber demjenigen Arbeitnehmer eine Kündigung zu erklären, der sozial am wenigsten schutzbedürftig ist. Das Auswahlkriterium „Lebensalter“ sei dabei ambivalent. Zwar nimmt die soziale Schutzbedürftigkeit zunächst mit steigendem Lebensalter zu, weil lebensältere Arbeitnehmer nach wie vor typischerweise schlechtere Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Sie fällt aber wieder ab, wenn der Arbeitnehmer entweder spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente wegen Alters – mit Ausnahme der Altersrente für schwerbehinderte Menschen (§§ 37, 236a SGB VI) – verfügen kann oder über ein solches bereits verfügt, weil er eine abschlagsfreie Rente wegen Alters bezieht. Diese Umstände können der Arbeitgeber bzw. die Betriebsparteien bei dem Auswahlkriterium „Lebensalter“ zum Nachteil des Arbeitnehmers berücksichtigen. Die streitbefangene erste Kündigung war im Ergebnis dennoch unwirksam, da diese allein wegen ihrer Rentennähe unter Außerachtlassung der anderen weiteren Auswahlkriterien „Betriebszugehörigkeit“ und „Unterhaltspflichten“ erfolgt und deswegen grob fehlerhaft war.

Ausnahme für Altersrente für schwerbehinderte Menschen

In der Praxis zu beachten ist, dass die Möglichkeit eine Altersrente, welche von schwerbehinderten Menschen nach Maßgabe der §§ 37, 236a SGB VI bezogen werden kann, nicht zu Lasten der zu kündigenden Arbeitnehmer:innen berücksichtigt werden kann. Insoweit scheint das BAG die Entscheidung des EuGH zur Unzulässigkeit von geringeren Sozialplanabfindung aufgrund der Möglichkeit des Bezugs einer vorzeitigen Altersrente wegen einer Behinderung fortzusetzen (EuGH, 6. Dezember 2012, C-152/11). Die Einstufung eines schwerbehinderten Menschen als „rentennah“ dürfte gleichwohl zulässig und berücksichtigungsfähig sein, aber eben nicht im Zusammenhang mit der gesonderten Rente für schwerbehinderte Menschen.

Eine folgenreiche Entscheidung für die Sozialauswahl?

Es ist zu begrüßen, dass das BAG-Klarheit bezüglich der Berücksichtigungsfähigkeit der Rentennähe im Rahmen einer durchzuführenden Sozialauswahl geschaffen hat. Es ist jedoch zu beachten, dass eine Auswahlentscheidung nicht allein aufgrund der Rentennähe erfolgen darf, sondern stets auch die weiteren Auswahlkriterien bei der Auswahlentscheidung zu berücksichtigen sind

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