Nachhaltigkeitsvereinbarungen im Lichte der neuen Horizontalleitlinien

Kooperationen zwischen Wettbewerbern, die Nachhaltigkeitsziele verfolgen, stand nach traditioneller Logik zuweilen das deutsche und europäische Kartellrecht entgegen. Dieses verbietet Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern, die eine Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken. Pro-kompetitive (Begleit-) Effekte konnten und können zwar weiterhin geltend gemacht werden, um eine (behauptete) Wettbewerbsbeschränkung aufzuwiegen. Allerdings war der Prüfungsmaßstab traditionell eng gesteckt und auf Effizienzgewinne etwa im Bereich der Produktion und des Vertriebs von Waren und Dienstleistungen beschränkt. Umwelt-, sozial- oder gar gesamtgesellschaftliche Vorteile konnten nicht in die wettbewerbliche Interessenabwägung einfließen. Die neuen EU Horizontal-Leitlinien ("Leitlinien") schaffen hier Abhilfe.

Ein nachhaltiges Wettbewerbsrecht

Nachhaltigkeitsvereinbarungen sind Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern, die auf die Umsetzung, Erreichung oder Verbesserung bestimmter selbst- oder drittbestimmter Standards in den Bereichen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung (engl.: Environmental, Social & Governance, kurz ESG) abzielen. Der Begriff ist offen und erfasst neben Umwelt- und Klimaschutzzielen (z.B. CO2-Reduktion) auch die Verbesserung von Arbeitsbedingungen, die Einhaltung von Menschenrechten (einschließlich in Drittstaaten, vgl. das deutsche Lieferkettengesetz), die Umstellung der Produktion auf gesunde und nahrhafte und/oder ressourcenschonende Lebensmittel oder die Gewährleistung des Tierschutzes. Die Form der Kooperation (sei es im Wege eines Gemeinschaftsunternehmens oder auf rein vertraglicher Grundlage) ist zweitrangig.

Häufig haben diese Vereinbarungen aber neben dem eigentlich verfolgten ESG-Ziel auch wettbewerbsbeschränkende Effekte zur Folge, z. B. in Gestalt von Preisfestsetzungen, Markt- oder Kundenaufteilungen, Beschränkung der Produktion, des Absatzes oder der Innovation. Soweit diese nicht das eigentliche Ziel der Vereinbarung sind, sondern quasi „mitschwingen“ und erforderlich sind, um die gegenläufigen Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, lässt sich das nach den Leitlinien im Einzelfall rechtfertigen. Das Kartellverbot steht der Nachhaltigkeitsvereinbarung dann nicht entgegen.

Die Vorgaben in den neuen Leitlinien

In den Leitlinien gibt die Kommission den Parteien einer Nachhaltigkeitsinitiative eine Anleitung für die kartellrechtliche Selbstveranlagung von verschiedenen Kategorien von Nachhaltigkeitsvereinbarungen. Darüber hinaus enthalten die Leitlinien konkrete Beispiele dafür, wie Nachhaltigkeitsvereinbarungen so gestaltet werden können, dass das Risiko einer Wettbewerbsbeschränkung minimiert wird, z. B. durch die Gewährleistung der Beteiligung aller relevanten Interessengruppen sowie durch die Festlegung klarer und messbarer Ziele der Nachhaltigkeitsleistung. Die Leitlinien sind für deutsche Behörden und Gerichte nicht rechtlich bindend. Sie haben aber erhebliche faktische Bindungswirkung, geben sie doch die Verwaltungspraxis der Kommission im Bereich von Nachhaltigkeitsvereinbarungen wieder („best practices“). Eine sorgfältige Prüfung im Einzelfall ersetzt das freilich nicht.

Die Leitlinien schaffen einen "soft safe harbour" für die Vereinbarung Nachhaltigkeitsstandards, sofern sechs kumulative Bedingungen erfüllt sind:

 

1. Ein transparentes und offenes Verfahren zur Entwicklung des Nachhaltigkeitsstandards;
2. Keine Verpflichtung zur Einhaltung des Standards für Unternehmen, die sich nicht beteiligen wollen;
3. Die teilnehmenden Unternehmen können zur Einhaltung des Standards verpflichtet werden; sie müssen aber die Möglichkeit haben, für das eigene Produktangebot ggf. (noch) höhere Nachhaltigkeitsstandards festzulegen;
4. Kein Austausch von strategisch sensiblen Geschäftsinformationen, der über das hinausgeht, was für die Umsetzung des Standards notwendig ist;
5. Effektiver und diskriminierungsfreier Zugang zu den Ergebnissen des Standardsetzungsprozesses;
6. Der Standard muss mindestens eine der folgenden Bedingungen erfüllen:.

a. Keine wesentliche Erhöhung der Preise und keine wesentliche Verringerung der Qualität der betreffenden Produkte;
b. Der gemeinsame Marktanteil der Teilnehmer darf auf keinem der von der Norm betroffenen relevanten Märkte 20% übersteigen.

Sind alle sechs Voraussetzungen erfüllt, ist es unwahrscheinlich, dass die Vereinbarung spürbare negative Auswirkungen auf den Wettbewerb hat, so dass sie nicht in den Anwendungsbereich von Art. 101 Abs. 1 AEUV (EU-Kartellverbot) fällt. Sind eine oder mehrere dieser Voraussetzungen nicht erfüllt, so begründet dies nicht die Vermutung, dass die Vereinbarung verboten ist. Die Parteien sind dann aber in der (umgekehrten) Beweislast, dass die Nachhaltigkeitsvorteile die wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen auf- und überwiegen.

Diese Einzelfallabwägung zwischen wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen und Nachhaltigkeitsvorteilen wird auch bei Nachhaltigkeitsvereinbarungen vorgenommen, die keine Standardisierung darstellen, sondern zwischen zwei oder mehr Wettbewerbern geschlossen werden und projektbezogen sind. Solche Vereinbarungen zeichnen sich dadurch aus, dass die Risiken eines einseitigen Wettbewerbsvorstoßes zu Gunsten z.B. einer nachhaltigeren (aber teureren) Produktions- oder Verpackungstechnik, durch eine koordinierte Vorgehensweise abgemildert werden sollen. Eine solche Verhaltenskoordinierung ist kartellrechtlich grundsätzlich verboten, kann aber im Einzelfall gerechtfertigt sein, wenn konkrete Verbrauchervorteile nachgewiesen werden können und die Wettbewerbsbeschränkung nicht über das notwendige Maß hinausgeht. Das Besondere dabei ist, dass nunmehr nicht nur individuelle Verbrauchervorteile einer konkret abgrenzbaren Gruppe berücksichtigt werden können, sondern darüber hinaus auch kollektive Vorteile der Gesellschaft insgesamt (wie zum Beispiel das gesamtgesellschaftliche Interesse an der Reduzierung der Erderwärmung, an einer ressourcenschonenden Kreislaufwirtschaft, fairen Arbeitsbedingungen und -löhnen, etc.)

Die Standpunkte der nationalen Wettbewerbsbehörden

Das Bundeskartellamt (BKartA) echten Nachhaltigkeitsvereinbarungen offen gegenüber und unterstützt diese. Beleg dafür ist nicht zuletzt die jüngere Fallpraxis des BKartA, die in unserer Oktoberausgabe näher beleuchtet haben.
Auch die Wettbewerbsbehörden in den Niederlanden, Österreich, Griechenland und Ungarn haben sich in (wenn auch in unterschiedlicher Form und Deutlichkeit) dazu bekannt, Nachhaltigkeitsaspekten einen höheren Stellenwert in ihrer täglichen Arbeit einzuräumen.

Abschließende Bemerkungen und Bedeutung für die Praxis

Es ist zu begrüßen, dass Nachhaltigkeitsvereinbarungen nunmehr Eingang in das Kartellrecht gefunden haben. Das Kartellrecht ist wie kein anderes Rechtsgebiet im Wandel und passt sich dynamisch dem gegenwärtigen Struktur- und Wertewandel an. War man unter Ludwig Erhard etwa noch der Auffassung, dass das Kartellrecht dem Schutz von Wettbewerb als (mehr oder weniger abstrakte) Institution dient, aber keine individuellen Rechte verleiht, geht die herrschende Meinung (darunter z.B. BKartA-Präsident Mundt) heute davon aus, dass Kartellrecht gelebtes Verbraucherschutzrecht ist. Insofern ist die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten in der täglichen Fallprüfung nur ein weiterer Schritt in die richtige Richtung. Bei alledem darf aber nicht verkannt werden, dass „Nachhaltigkeit“ kein Freibrief für Kartellabsprachen ist. Preisabreden etwa, die unter dem Deckmantel von Nachhaltigkeit getroffen werden, sind und bleiben verboten und können hohe Bußgelder nach sich ziehen.

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