Crowdworker = Arbeitnehmer!?

In seinem Urteil vom 1. Dezember 2020 hat das BAG erstmals entschieden, dass ein als vermeintlich selbständig tätiger Crowdworker in Wirklichkeit in einem Arbeitsverhältnis mit dem Plattformbetreiber stehen kann. Die Qualifizierung eines Crowdworkers als Arbeitnehmer hängt jedoch weiterhin entscheidend von den Umständen des Einzelfalls ab. 

BAG –  Urteil vom 01. Dezember 2020  9 AZR 102/20 


Sachverhalt

Der klagende Crowdworker war seit Anfang 2017 auf Basis einer Rahmenvereinbarung für die Betreiberin einer Internetplattform tätig, welche im Auftrag ihrer Kunden die Präsentation von Markenprodukten im Einzelhandel und an Tankstellen kontrolliert. Die Kontrolltätigkeiten selbst lässt sie durch Crowdworker ausführen. Der Kläger erhielt Zugang zu den auf der Internetplattform angebotenen auf bestimmte Verkaufsstellen bezogene Einzelaufträgen. Dabei handelte es sich insbesondere darum, Fotos von der Warenpräsentation anzufertigen und Fragen zur Werbung von Produkten zu beantworten.

Die Nutzer der Internetplattform sind nicht verpflichtet, bestimmte Aufträge zu übernehmen oder ein bestimmtes Auftragsvolumen zu erfüllen. Sofern ein Crowdworker einen Auftrag jedoch übernimmt, muss er diesen regelmäßig binnen zwei Stunden nach detaillierten Vorgaben des Plattformbetreibers erledigen. Mit steigender Anzahl erledigter Aufträge erhöht das System das Level des Crowdworkers und er erhält die Möglichkeit, gleichzeitig mehrerer Aufträge anzunehmen.

Nachdem es aufgrund der Ausführung eines Auftrages zu Streitigkeiten gekommen war, teilte die Betreiberin der Internetplattform dem Kläger mit, ihm zur Vermeidung künftiger Unstimmigkeiten keine weiteren Aufträge mehr anzubieten. Mit seiner Klage hat er daher zunächst beantragt festzustellen, dass zwischen den Parteien ein unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht. Im Verlauf des Rechtsstreits kündigte die Beklagte ein etwaig bestehendes Arbeitsverhältnis vorsorglich. Daraufhin hat der Kläger seine Klage, mit der er außerdem Vergütungsansprüche verfolgt, um einen Kündigungsschutzantrag erweitert. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Sie haben das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses der Parteien verneint.

Entscheidung

Die Revision des Klägers hatte teilweise Erfolg. Das BAG entschied zwar, dass sich der Kläger zum Zeitpunkt der (zunächst vorsorglichen) Kündigung in einem Arbeitsverhältnis bei dem Plattformbetreiber stand. Es hielt die Kündigung jedoch für wirksam. 

Die Arbeitnehmereigenschaft hängt nach der Entscheidung des BAG nach § 611a BGB davon ab, ob der Beschäftigte weisungsgebundene, fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit leistet. Zeige die tatsächliche Durchführung eines Vertragsverhältnisses, dass es sich hierbei um ein Arbeitsverhältnis handelt, komme es auf die Bezeichnung im Vertrag nicht an. Die dazu vom Gesetz verlangte Gesamtwürdigung aller Umstände könne demnach ergeben, dass Crowdworker als Arbeitnehmer anzusehen sind. Für ein Arbeitsverhältnis spricht es, wenn der Auftraggeber die Zusammenarbeit über die von ihm betriebene Internetplattform so steuert, dass der Auftragnehmer infolge dessen seine Tätigkeit nach Ort, Zeit und Inhalt nicht frei gestalten kann. So liegt es nach Ansicht des 9. Senats im zu entscheidenden Fall. Der Kläger leistete in arbeitnehmertypischer Weise weisungsgebundene und fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit. Zwar war er vertraglich nicht zur Annahme von Angeboten der Beklagten verpflichtet.

Die Organisationsstruktur der von der Beklagten betriebenen Internetplattform war aber darauf ausgerichtet, dass die Nutzer kontinuierlich Bündel einfacher, Schritt für Schritt vertraglich vorgegebener Kleinstaufträge annehmen, um diese persönlich zu erledigen. Erst ein mit der Anzahl durchgeführter Aufträge erhöhtes Level im System ermögliche es den Nutzern der Internetplattform, gleichzeitig mehrere Aufträge anzunehmen, um diese auf einer Route zu erledigen und damit faktisch einen höheren Stundenlohn zu erzielen. Durch dieses Anreizsystem werde der Kläger dazu veranlasst, in dem Bezirk seines gewöhnlichen Aufenthaltsorts kontinuierlich Kontrolltätigkeiten zu erledigen.

Darüber hinaus entschied der 9. Senat, dass der Kläger für seine Tätig nicht ohne Weiteres eine Vergütung nach Maßgabe seiner bisher als vermeintlich freier Mitarbeiter bezogenen Honorare verlangen kann. Denn stellt sich ein vermeintlich freies Dienstverhältnis im Nachhinein als Arbeitsverhältnis dar, kann in der Regel nicht davon ausgegangen werden, die vereinbarte Vergütung sei der Höhe nach auch für eine Beschäftigung als Arbeitnehmer verabredet. Geschuldet sei vielmehr die übliche Vergütung nach § 612 Abs. 2 BGB. Die aber muss das Landesarbeitsgericht nun feststellen.

Praxistipp

Es besteht aufgrund des Urteils des BAG keinesfalls ein Automatismus, dass jeder Crowdworker als Arbeitnehmer zu qualifizieren ist. Dies erfordert weiterhin eine Gesamtwürdigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls, ohne dass es darauf ankommt, wie die Parteien ihren Vertrag bezeichnet und welche Regelungen sie dort getroffen haben. Die Arbeitnehmereigenschaft liegt dabei umso näher, je umfassender die Eingliederung in die fremde Organisationsstruktur ist und je stärker auf die Ausführung der Tätigkeiten Einfluss genommen werden kann. 

Unternehmen, die Aufträge an Crowdworker vermitteln, sollten künftig möglichst darauf verzichten, besondere Vorteile für überdurchschnittlich aktive Nutzer in Aussicht zu stellen oder Phasen längerer Inaktivität mit Sanktionen zu verknüpfen. Bei der Übernahme einzelner Aufträge sollten den Crowdworkern möglichst viele Freiheiten bezüglich Zeit, Ort und Art der Ausführung gewährt werden.

Ausblick

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat am 27. November 2020 ein Eckpunktepapier „Faire Arbeit in der Plattformökonomie“ vorgelegt. Darin stellt das Bundesministerium eine Reihe von Maßnahmen vor, die die Rechte von Crowdworkern gegenüber Arbeitsplattformen stärken und für faire Bedingungen und mehr sozialen Schutz sorgen sollen, u.a. Einbeziehung in die gesetzliche Rentenversicherung und Einführung einer Beweislastumkehr bei Prozessen zur Klärung des Arbeitnehmerstatus. Welche dieser Maßnahmen tatsächlich umgesetzt werden, bleibt jedoch abzuwarten. 

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