COVID-19: Welche Auswirkungen hat die Corona-Krise auf aktuell laufende Vergabeverfahren in Deutschland?

Die Corona-Pandemie kann sich ganz wesentlich auf aktuell laufende Vergabeverfahren auswirken. D. h. Fristen müssen verlängert, Projekte eingestellt und Bieter müssen entsprechend informiert werden. Bei all diesen Maßnahmen sind jedoch sowohl der vergaberechtliche Rahmen als auch die Entscheidungen der Nachprüfungsinstanzen zu beachten. Dies gilt auch in Krisenzeiten.

Aus diesem Grund haben wir nachfolgend die zentralen Themen für Sie zusammengestellt, mit welchen Sie als Bieter oder Vergabestelle bzw. öffentlicher Auftraggeber in aktuell laufenden Vergabeverfahren konfrontiert werden. Verweise auf entsprechend ergangene Rechtsprechung und Handlungsempfehlungen runden die Darstellung ab. 

In diesem Zusammenhang möchten wir zudem noch auf unsere vertiefende Webinar-Reihe hinweisen, in der wir diese und weitere Aspekte des öffentlichen Wirtschafts- und Vergaberechts behandeln, und sowohl Beschaffer als auch Bieter über die aktuellen Problemstellungen – insbesondere im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie – informieren.

Vergaberechtlich zentrale Themen in Zeiten der Covid-19-Pandemie:

  • Aufhebung und Einstellung von Vergabeverfahren
  • Fristanpassung
  • Rücknahme von Angeboten
  • Umgang mit Bindefristen
  • Anpassung von Vergabeunterlagen

Wann können Vergabeverfahren aufgehoben bzw. eingestellt werden?

Die Aufhebung und Einstellung von Vergabeverfahren ist gesetzlich grundsätzlich umfassend geregelt.

In den jeweiligen Vergabeverordnungen werden ähnliche bzw. zum Teil identische Regelungen bzgl. der Aufhebung von Verfahren vorgesehen. Die einschlägigen Normen in § 63 Abs. 1 VgV, § 17 (EU) Abs. 1 VOB/A, § 57 S. 1 SektVO sowie § 37 Abs. 1 VSVgV lassen die Aufhebung/Einstellung ausnahmsweise aus den folgenden Gründen zu:

  • Es ist kein Angebot eingegangen, das den Bedingungen entspricht,
  • es liegt eine wesentliche Änderung der Grundlage des Vergabeverfahrens vor,
  • es wurde kein wirtschaftliches Ergebnis erzielt oder
  • es liegen andere schwerwiegende Gründe vor.

Neben der Überprüfung der Aufhebungsgründe werden in den o. g. Vergabeverordnungen zudem Vorgaben zur Information der Bieter über die Aufhebung sowie korrespondierende Dokumentationspflichten bestimmt. So wird die zwingend zu tätigende, unverzügliche Mitteilung der Gründe gegenüber den Bietern in § 63 Abs. 2 S. 1 VgV vorgesehen. Die Dokumentation der Aufhebung sowie der korrespondierenden Aufhebungsgründe in der Vergabeakte wird ergänzend in § 8 Abs. 2 Nr. 8 VgV geregelt.

Vor diesem Hintergrund stellt sich allerdings die Frage: Kann die aktuelle „Corona-Krise“ die Aufhebung eines Vergabeverfahrens überhaupt ohne Weiteres begründen bzw. rechtfertigen?

In diesem Zusammenhang erfolgt zunächst der Verweis auf die aktuelle Erlasslage in der Bundesrepublik. Die Bundesregierung hat infolge der Corona-Pandemie eine Reihe von Erlassen und Rundschreiben veröffentlicht, die zum einen die vergaberechtliche Lage klarstellen und zum anderen die Steuerung von Vergabeverfahren für öffentliche Auftraggeber vereinfachen sollen. Auch die Europäische Kommission hat sich bereits hierzu geäußert.

Das Rundschreiben des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) vom 19.03.2020 stellt klar, dass die aktuelle Lage insbesondere Dringlichkeitsbeschaffungen von Artikeln zur Bewältigung der „Corona-Krise“ (d. h. Schutzausrüstung, IT-Arbeitsplätze etc.) rechtfertigt. Im Erlass des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat (BMI) vom 23.03.2020 wird die Corona-Pandemie zudem als eine Situation bewertet, die grundsätzlich geeignet ist, den Tatbestand der höheren Gewalt für die Vertragsausführung im Sinne des § 6 Abs. 2 Nr. 1 lit. c) VOB/B auszulösen (vgl. Verlängerung von Ausführungsfristen bei höherer Gewalt). Nach einem weiteren Erlass des BMI vom 27.03.2020 ist mithin eine Dringlichkeitsbeschaffung von Baumaßnahmen zur Eindämmung der „Corona-Krise“ (bspw. im Krankenhausbereich zur Errichtung von Videokonferenzräumen oder Trennwänden) erlaubt. Entsprechend den Leitlinien der Europäischen Kommission vom 01.04.2020 rechtfertigt die aktuelle Lage letztlich die Nutzung flexibler Beschaffungsmöglichkeiten (d. h. den Einsatz von Agenten, Fristverlängerungen, Dringlichkeitsvergaben etc.). Im Übrigen sind weitere Erlasse auf Landesebene z.B. in NRW, Bayern und Niedersachsen zu finden, die maßgeblich sowohl die Erhöhung der Wertgrenzen als auch die Vereinfachung von Direktvergaben zur Bewältigung der „Corona-Krise“ betreffen.

Jedoch wird in keinem der o.g. Erlasse die Frage einer möglichen Aufhebung bzw. die Frage der Auslegung von Aufhebungsgründen in vorherrschenden Krisenzeiten ausdrücklich erläutert und geklärt. Vielmehr entscheidet im Ergebnis die Prüfung im Einzelfall.

Die aktuelle Corona-Pandemie ist grundsätzlich dann geeignet, als eine wesentliche Änderung der Grundlage des Vergabeverfahrens eine Aufhebung zu rechtfertigen, wenn hierdurch z. B. auf haushälterischer Ebene der ursprünglich vorgesehene Bedarf eben nicht mehr oder nur teilweise besteht, oder aber wenn die mit bzw. nach Zuschlagserteilung ursprünglich eingekauften Produkte und Leistungen gar nicht mehr gebraucht werden.

Auch der o. g. Aufhebungsgrund der anderen schwerwiegenden Gründe kann in der jetzigen Lage einschlägig sein. Insbesondere dann, wenn aufgrund der geltenden Corona-Einschränkungen die Leistungen in ihrer ursprünglichen Form rechtlich nicht mehr erbracht oder eingesetzt werden können.

Wann kann die „Corona-Krise“ die Aufhebung eines Vergabeverfahrens noch rechtfertigen? 

Die Frage kann nicht pauschal beantwortet werden und bedarf, wie bereits dargestellt, einer Analyse und Prüfung in jedem Einzelfall. Wichtig ist dabei nicht nur die Betrachtung der Bedingungen vor und nach Ausbruch der Pandemie, sondern ferner auch die Feststellung, zu welchem Zeitpunkt das Vergabeverfahren begonnen hat.

Nach der Rechtsprechung des BGH können nur nachträgliche, nicht vorhersehbare Umstände oder solche anfängliche Umstände eine Aufhebung rechtfertigen, die der Auftraggeber im Zeitpunkt der Einleitung des Vergabeverfahrens auch bei pflichtgemäßer Sorgfalt nicht hätte erkennen können (vgl. BGH, Urt. v. 05.11.2002 – X ZR 232/00). Insoweit ist im Falle einer Bejahung von Aufhebungsgründen durch Covid-19 dann besonders genau zu prüfen, zu welchem Zeitpunkt das Vergabeverfahren eingeleitet wurde: vor oder nach dem 11.03.2020 (Zeitpunkt der Pandemie-Erklärung der WHO), d.h. in Kenntnis der Corona-Pandemie.

Besteht die Möglichkeit, dass sich die Vergabestelle die Aufhebung der Ausschreibung vorbehält bzw. eine Aufhebungsoption in den Vergabeunterlagen bestimmt?

Diese Möglichkeit ist zu verneinen. Eine solche freie Disposition ist gesetzlich nicht vorgesehen und widerspricht zudem eindeutig den o.g. Aufhebungsgründen, die eine Aufhebung gerade nur ausnahmsweise erlauben.

Neben der gänzlichen Aufhebung eines Vergabeverfahrens kann der öffentliche Auftraggeber ein Verfahren allerdings auch nur teilweise aufheben. Eine Teilaufhebung ist dabei sowohl bzgl. einzelner Teile oder Lose (sog. vertikale Teilaufhebung, vgl. VK Bund, Beschl. v. 29.09.2010 – VK 1-91/10) als auch bzgl. einzelner Phasen (sog. horizontale Teilaufhebung, vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 12.01.2015 – VII-Verg 29/14) möglich.

Schließlich ist im Rahmen der Verfahrensaufhebung – ob gänzlich oder auch nur in Teilen – zusätzlich zu beachten, dass in Bezug auf die Aufhebungsentscheidung regelmäßig zwischen einer rechtmäßigen und einer rechtswidrigen – jedoch wirksamen – Entscheidung zu differenzieren ist. Aus diesem Grund muss die aktuelle Erlasslage stets in den Entscheidungs-/Prüfungsprozess des Für und Widers einer Aufhebung miteinfließen. So sieht beispielsweise der o.g. Erlass des BMI vom 27.03.2020 vor, dass „ausschreibungsreife Gewerke weiterhin zu vergeben [sind]. Planungen sind fortzusetzen und weitere Bauvorhaben zur Ausschreibung zu führen.“

Müssen Fristen verlängert werden?

Eine generelle Pflicht eines jeden Auftraggebers, nun sämtliche Fristen im Vergabeverfahren zu verlängern, besteht nicht. Vielmehr muss die Frage dahingehend gestellt werden, ob und in welchem Umfang Vergabestellen die Verfahrensfristen verlängern bzw. verkürzen können.

Einen ersten Hinweis gibt diesbezüglich der o.g. Erlass des BMI vom 27.03.2020, in welchem bzgl. der Angebots- und Vertragsfristen folgendes klargestellt wird:

Soweit die Terminsituation der Baumaßnahme es zulässt, sind zur Erhaltung des Wettbewerbes in den Vergabeunterlagen die Angebotsfristen und ggf. die Vertragsfristen (z.B. Beginn der Baumaßnahme) der aktuellen Situation angepasst zu bemessen und bei Eingang von darauf gerichteten Anträgen der Unternehmen ist der Fristablauf für alle Unternehmen in gleichem Maße möglichst zu verschieben. Gleiches gilt in Bezug auf Teilnahmeanträge und auf Gespräche in Verhandlungsverfahren.

Teilnahme- und Angebotsfrist

Zudem werden durch die einzelnen Verfahrensordnungen konkrete Möglichkeiten der Fristenbestimmung und -ausgestaltung normiert. So definiert beispielsweise die VgV folgende Fristen für die einzelnen Verfahrensarten:

  • Offenes Verfahren, § 15 VgV: 
    In einem offenen Verfahren beträgt gem. § 15 Abs. 2 und 4 VgV die Angebotsfrist grundsätzlich 35 bzw. im Falle elektronischer Angebote 30 Tage. Bei einer hinreichend begründeten Dringlichkeit kann diese gem. § 15 Abs. 3 VgV sogar bis auf 15 Tage verkürzt werden.
  • Nicht offenes Verfahren, § 16 VgV / Verhandlungsverfahren, § 17 VgV: 
    In einem nicht offenen Verfahren bzw. in einem Verhandlungsverfahren sehen die §§ 16 und 17 VgV entsprechend vor, dass die Teilnahmefrist 30 Tage beträgt (§§ 16 Abs. 2, § 17 Abs. 2 VgV), die jedoch ebenfalls im Falle einer hinreichend begründeten Dringlichkeit auf 15 Tage verkürzt werden kann (§§ 16 Abs. 3, 17 Abs. 3 VgV). 
    Die Angebotsfrist beträgt respektive 30 oder bei Zulassung elektronischer Angebote 25 Tage (§§ 16 Abs. 5 und 8, 17 Abs. 6 und 9 VgV) und kann, soweit eine hinreichend begründete Dringlichkeit vorliegt, sogar auf 10 Tage verkürzt werden (§§ 16 Abs. 7, 17 Abs. 8 VgV).

Eine Verlängerung der Angebotsfrist ist im Rahmen der oben genannten Verfahrensarten gesetzlich gem. § 20 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 und 2 VgV zum einen bei verspäteter Beantwortung von Bieterfragen sowie bei wesentlichen Änderungen an den Vergabeunterlagen vorgesehen (zur Teilnahmefrist vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 28.03.2018 – VII-Verg 40/17). Ferner ist es möglich, die Angebotsfrist gem. §§ 16 Abs. 6 S. 1 bzw. 17 Abs. 7 S. 1 VgV im Rahmen des nicht offenen und des Verhandlungsverfahrens einvernehmlich mit den Bietern zu bestimmen. Hierdurch wird sichergestellt, dass die Frist die Interessen aller Beteiligten ausreichend berücksichtigt.

Obgleich keine sonstigen Fälle einer (Angebots-) Fristverlängerung – neben § 20 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 und Nr. 3 VgV – gesetzlich normiert sind, scheidet eine solche aufgrund der „Corona-Krise“ nicht gänzlich von vornherein aus. Vielmehr erscheint eine angemessene Verlängerung der Angebotsfristen im Hinblick auf die Wahrung der Rechte der beteiligten Bieter sowie als milderes Mittel gegenüber einer Aufhebung bzw. Teilaufhebung des Vergabeverfahrens durchaus möglich.

Fristen im Nachprüfungsverfahren vor den Vergabekammern

Zudem begründet die Covid-19-Pandemie keine bundesweiten „Gerichtsferien“ – im Gegenteil – die Gerichte betonen vielmehr, dass ein Stillstand der Rechtspflege zwingend vermieden und gerichtliche Verfahren weiterhin – wenn auch erheblich verzögert – stattfinden müssen.

Zwar könnte die Einhaltung der 5-Wochen-Frist gem. § 167 Abs. 1 S. 1 GWB die Vergabekammern vor einigen Herausforderungen stellen. Allerdings war eine Verlängerung dieser Entscheidungsfrist bereits auch schon vor Beginn der „Corona-Krise“ gängige Praxis und dürfte jetzt erst recht ohne Weiteres möglich sein.

Wie verhält es sich mit mündlichen Verhandlungen vor den Vergabekammern? 

Die aktuelle Praxis zeigt, dass Nachprüfungsinstanzen mündliche Verhandlungen vermehrt vermeiden wollen – sei es durch die Vermittlung von Vergleichen, durch die Herbeiführung von Entscheidungen nach Aktenlage mit entsprechender Zustimmung der Parteien gem. § 166 Abs. 1 S. 3 Var. 1 GWB oder durch Hinweise auf eine vorläufige Rechtsansicht, die die Antragsteller ggf. zur Rücknahme von Nachprüfungsanträgen bewegen soll. 

In allen anderen Fällen ist jedoch eine Entscheidung nach Aktenlage, d.h. ohne mündliche Verhandlung und ohne Zustimmung aller Beteiligten gem. § 166 Abs. 1 S. 1, 3 GWB, ausgeschlossen, da dies den verfassungsrechtlich verankerten Verfahrensgarantien widerspricht und nach obergerichtlicher Rechtsprechung prozessual zu beanstanden ist (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.12.2015 – Verg 24/15, KG Berlin, Beschl. v. 10.02.2020 – Verg 6/19). Denkbar sind in diesem Zusammenhang zudem auch Anträge auf Gestattung der vorzeitigen Zuschlagserteilung gem. § 169 Abs. 2 GWB, da diesen in Verbindung mit Epidemien bereits vereinzelt stattgegeben wurde (vgl. OLG Naumburg, Beschl. v. 10.11.2003 – 1 Verg 14/03).

Können Angebote zurückgezogen werden? 

Angebote können grundsätzlich bis zum Ablauf der Angebotsfrist ohne Weiteres geändert, zurückgezogen und ergänzt werden. Einer Zustimmung des Auftraggebers bzw. der Vergabestelle bedarf es nicht. Nach Ablauf der Angebotsfrist sind die Bieter jedoch bis zum Ablauf der Bindefrist an ihre Angebote gebunden. 

Können Angebote dennoch zu jedem Zeitpunkt des Vergabeverfahrens aufgrund der aktuellen Lage ohne Rechtsfolgen für die Bieter zurückgezogen werden?

Die Frage ist wohl zu verneinen.

Die Bindung entfällt nach verfestigter Rechtsprechung nur ausnahmsweise, d. h. bspw. bei extremen Kalkulationsfehlern, die auch der Auftraggeber erkennen konnte (vgl. BGH, Urt. v. 11.11.2014 – X ZR 32/14). Die Bindung des Bieters an das eingereichte Angebot kann auch nicht wegen der „Corona-Krise“ als ein Fall der höheren Gewalt per se entfallen. Insoweit kann die höhere Gewalt nicht pauschal die vertragliche Bindung entfallen lassen, sondern wirkt sich vielmehr auf die bestehenden, gegenseitigen Leistungspflichten aus und begründet ggf. Kündigungsrechte lediglich bei längerer Behinderung (vgl. § 6 Abs. 2 und 7 VOB/B; § 5 Nr. 2 Abs. 1 und 2 VOL/B). Zudem regelt § 311a Abs. 1 BGB, dass der Wirksamkeit eines Vertrags gerade nicht entgegensteht, dass der Schuldner nach § 275 Abs. 1 bis 3 BGB nicht zu leisten braucht und das Leistungshindernis schon bei Vertragsschluss vorliegt. Dieser zivilrechtliche Grundsatz ist wohl auch auf die Behandlung von Angeboten übertragbar, die in einem Vergabeverfahren in Zeiten der „Corona-Krise“ abgegeben wurden.

Wie sollten öffentliche Auftraggeber und Bieter mit Bindefristen umgehen?

Wie bereits erwähnt, sind die Bieter grundsätzlich bis zum Ablauf der Bindefrist an ihre Angebote gebunden. Der Zuschlag kann daher grundsätzlich nur innerhalb der Bindefrist erteilt werden. 

Was gilt jedoch, wenn die Bindefrist verlängert werden muss? Was passiert, wenn die Bindefrist nicht rechtzeitig verlängert wird?

Die Verlängerung der Bindefrist ist – im Gegensatz zur Verlängerung der Angebotsfrist – gesetzlich nicht geregelt. Gleichwohl ist eine Verlängerung während des laufenden Vergabeverfahrens grundsätzlich möglich und zudem allgemein anerkannt, erfordert jedoch die Zustimmung jedes einzelnen Bieters, da sich hierdurch der zeitliche Umfang ihrer Angebote ändert.

Kann aber die Zustimmung vom öffentlichen Auftraggeber erzwungen werden, indem ein Angebot mangels Zustimmung zur Verlängerung der Bindefrist aus dem Verfahren gänzlich ausgeschlossen wird? 

In diesem Zusammenhang wird auf die im Gesetz in § 57 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 VgV abschließend aufgezählten Ausschlussgründe verwiesen. Danach stellt die fehlende Zustimmung eines Bieters insoweit keinen gesetzlich normierten Ausschlussgrund dar und kann daher auch keinen Angebotsausschluss begründen (vgl. OLG Celle, Beschl. v. 30.01.2020 – 13 Verg 14/19).

Die Bindefrist kann somit lediglich mit Zustimmung der Bieter vor Ablauf eben dieser verlängert werden.

Fraglich ist, ob dies auch möglich ist, wenn der öffentliche Auftraggeber es versäumt hat, die Bindefrist rechtzeitig vor Ablauf zu verlängern, bzw. die jeweiligen Zustimmungen der Bieter dem Auftraggeber erst nach Ablauf der Bindefrist zugehen? 

Dies ist wohl zu bejahen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 20.02.2007 – Verg 3/07, a.A. OLG Jena, Beschl. v. 30.10.2006 – 9 Verg 4/06).

Wie lange kann die Bindefrist dann verlängert werden? 

Die Dauer der Verlängerung ist einzelfallabhängig und stets unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu bestimmen. Insoweit ist auch eine mehrmalige Verlängerung möglich, vorausgesetzt, dass die wiederholte Verlängerung nicht grundlos bzw. rein manipulativ erfolgt. Zudem müssen die öffentlichen Auftraggeber beachten, dass eine lediglich mit dem Bestbieter abgestimmte Verlängerung andere Bieter benachteiligt und unzulässig ist.

Wie erfolgt der Vertragsschluss, wenn die Bindefrist ohne Verlängerung abgelaufen ist? Ist eine Zuschlagserteilung dann überhaupt möglich? 

Die Rechtsprechung bestätigt dies und geht ferner davon aus, dass in einem solchen Fall die Zuschlagserteilung auf ein Angebot, dessen Bindefrist bereits abgelaufen ist, ggf. haushaltsrechtlich sogar geboten sein kann. Zivilrechtlich bedarf eine solche Zuschlagserteilung allerdings noch der abschließenden Zustimmung des Bieters, um einen wirksamen Vertragsabschluss zu begründen. Der verspätete Zuschlag stellt nämlich dann ein neues Angebot dar, das der Bieter, der durch Fristablauf von seinem bindenden Angebot frei geworden ist, annehmen, aber auch ohne Weiteres ablehnen kann (vgl. BGH, Beschl. v. 07.11.2018 – VII ZR 276/16; OLG Celle, Beschl. v. 30.01.2020 – 13 Verg 14/19; OLG Dresden, Beschl. v. 12.10.2016 – 16 U 91/16).

Ist eine strategische Bedarfsanpassung möglich?

Die öffentlichen Auftraggeber werden nun wahrscheinlich vermehrt vor die Frage gestellt, ob die ausgeschriebene Leistung im laufenden Vergabeverfahren aufgrund der aktuellen Entwicklung ggf. angepasst werden kann.

Ist eine solche Anpassung möglich, wenn sich der aktuelle Bedarf des Auftraggebers aufgrund der „Corona-Krise“ ändert?

Offensichtlich stellt die Anpassung der Vergabeunterlagen bzw. des ausgeschriebenen Bedarfs im laufenden Vergabeverfahren keinen Fall des § 132 GWB dar, da diese Bestimmung lediglich die Änderung der Leistung nach Zuschlag und eben gerade nicht während des laufenden Verfahrens regelt.

Gleichwohl ist die Anpassung der Leistung und der Vergabeunterlagen vergaberechtlich nicht grundsätzlich ausgeschlossen, sondern wird in bestimmten vergaberechtlichen Regelungen sogar vorausgesetzt. So werden etwa Änderung der Vergabeunterlagen im laufenden Vergabeverfahren in § 20 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 VgV erwähnt. Danach sind die Angebotsfristen zu verlängern, wenn der öffentliche Auftraggeber wesentliche Änderungen an den Vergabeunterlagen vornimmt und die Bieter nicht rechtzeitig vor Ablauf der Angebotsfrist darüber informiert.

Bei der Anpassung der Leistung muss der öffentliche Auftraggeber beachten, dass bei der Änderung der Inhalte der EU-Bekanntmachung eine Neubekanntmachung bzw. eine Änderungsbekanntmachung erforderlich sein kann (vgl. OLG Naumburg, Beschl. v. 30.04.2014 – 2 Verg 2/14).

In welchem Umfang kann die Änderung im laufenden Vergabeverfahren erfolgen? 

Die Vergaberechtsprechung geht insoweit davon aus, dass Korrekturen und zweckmäßige Anpassungen jederzeit möglich sind (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 14.09.2016 – VII-Verg 7/16). Wesentliche Änderungen müssen jedoch zur zwingenden Verlängerung der Angebotsfrist (s.o. § 20 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 VgV) bzw. zur erneuten Angebotsabgabe (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 17.05.2017 – VII-Verg 43/16) oder sogar zur Neuausschreibung führen, wenn die Leistung so gravierend geändert wird, dass ein sog. aliud vorliegt bzw. wenn die Änderung einen anderen Bieterkreis (z.B. Standardsoftware vs. Cloud-Lösungen) anspricht. Hier können insoweit die Wertungen des § 132 Abs. 2 und 3 GWB bzgl. der Beibehaltung des Gesamtcharakters des Vertrages herangezogen werden.

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