Unterzeichnen von Kündigungen vor Massenentlassungsanzeige zulässig

Im Falle einer geplanten Massenentlassung ist der Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, vor der Entlassung von Arbeitnehmern eine Massenentlassungsanzeige gegenüber der Agentur für Arbeit zu erstatten. Ansonsten sind die anzeigepflichtigen Entlassungen unwirksam. Das BAG hatte bereits in der Vergangenheit klargestellt: Für den Begriff der Entlassung kommt es auf den Zugang der Kündigungserklärung beim Arbeitnehmer an. Ergänzend stellt das BAG nun fest: Schon vor der Massenentlassungsanzeige kann der Kündigungsentschluss getroffen werden und damit die Unterzeichnung der Kündigungen erfolgen.

BAG – Urteil vom 16.06.2019, 6 AZR 459/18

Die Unterzeichnung der Kündigung als "Entlassung" im Sinne des der Vorschrift zur Massenentlassungsanzeige? 

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer als Teil einer Massenentlassung erklärten ordentlichen betriebsbedingten Kündigung. Die erforderliche Massenentlassungsanzeige erfolgte bei der Agentur für Arbeit am Tag des Ausspruchs der Kündigung. Das Kündigungsschreiben ging dem Arbeitnehmer am folgenden Tag zu. Der Arbeitnehmer legte daraufhin beim zuständigen Arbeitsgericht Kündigungsschutzklage mit der Begründung ein, dass nach Rechtsprechung des EuGHs der Arbeitgeber seiner Anzeigepflicht vor einer Entscheidung zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses nachkommen muss.
 
Das Arbeitsgericht Mannheim hatte die Klage abgewiesen. Die Berufung des Arbeitnehmers vor dem LAG Baden-Württemberg hatte Erfolg. Das LAG hielt die Kündigung für unwirksam. Dabei stellte es auf die Unterzeichnung der Kündigung und nicht deren Zugang beim Arbeitnehmer als Entlassung im Sinne der Vorschriften zur Massenentlassungsanzeige ab. Die Anzeige müsse die Agentur für Arbeit erreichen, bevor der Arbeitgeber die Kündigungsentscheidung trifft und das Kündigungsschreiben unterzeichnet.

Zugang der Kündigung entscheidend - Kündigungsentschluss bereits bei Eingang der Massenentlassungsanzeige

Die gegen das Urteil des LAG Baden-Württemberg eingelegte Revision war erfolgreich. Das BAG stellt klar, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, Massenentlassungen der Agentur für Arbeit anzuzeigen, allein beschäftigungspolitischen Zwecken dient. Die Agentur für Arbeit solle rechtzeitig über eine bevorstehende Massenentlassung unterrichtet werden, um sich auf die Entlassung einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern vorbereiten und ihre Vermittlungsbemühungen darauf einstellen zu können. Das setze voraus, dass bereits feststeht, wie viele und welche Arbeitnehmer konkret entlassen werden sollen. Auf den Willensentschluss des Arbeitgebers zur Kündigung kann, soll und will die Agentur für Arbeit - anders als der Betriebsrat im Rahmen des Konsultationsverfahrens - keinen Einfluss nehmen.

Das Anzeigeverfahren ist nach dem BAG streng von dem Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat zu trennen. Dabei sind im Vorfeld der anzeigepflichtigen Massenentlassungen mit dem Betriebsrat die Möglichkeiten zu beraten, wie Entlassungen vermieden oder ihre Folgen abgemildert werden können. Dieses ist bereits einzuleiten, sobald eine strategische und betriebswirtschaftliche Entscheidung getroffen wurde, die den Arbeitgeber zwingt, Massenentlassungen ins Auge zu fassen. Das Konsultationsverfahren solle dem Betriebsrat ermöglichen, konstruktive Vorschläge unterbreiten zu können, um die Massenentlassung zu verhindern oder jedenfalls zu beschränken.
 
Von diesem unterschiedlichen Ansatz der beiden Verfahren ausgehend, stellt das BAG fest, dass eine erforderliche Massenentlassungsanzeige erst dann wirksam erstattet werden kann, wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt ihres Eingangs bei der Agentur für Arbeit bereits zur Kündigung entschlossen ist. Dem entsprechend können die Kündigungen auch bereits unterschrieben werden, dürfen allerdings den Arbeitnehmern erst zugehen, wenn die ordnungsgemäße Anzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit eingegangen ist. 

Ob die Kündigung in dem Fall des BAG tatsächlich erst nach Eingang der Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit zuging, konnte das Gericht anhand der getroffenen Feststellungen nicht klären, weshalb die Klage an das LAG zurückverwiesen wurde.

Trotz erleichternder Klarheit - Sorgfalt in der Restrukturierungspraxis erforderlich

Das Urteil des BAG bringt Erleichterungen für Personalabbaumaßnahmen. Ist das erforderliche Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat durchgeführt, kann die Massenentlassungsanzeige gleichzeitig mit dem Ausfertigen der Kündigungen erfolgen. Das spart zum einen Zeit. Zum anderen ist es praktikabel, wenn die Kündigungsschreiben von mehreren Personen unterzeichnet werden müssen, die nicht immer durchgehend im Betrieb anwesend sind oder im Ausland sitzen.
 
Weitere Zeitersparnis gewinnen Arbeitgeber, indem sie die Anzeige durch Telefax - eine zwingende Schriftform ist für die Anzeige nämlich nicht vorgesehen - gegenüber der Agentur für Arbeit erstatten und noch am selben Tag, nach Erhalt des Faxsendeprotokolls, die Kündigung dem Arbeitnehmer zustellen. Hier ist allerdings auf eine klare Beweissicherung der zwingend einzuhaltenden zeitlichen Abfolge zu achten.
 
Arbeitgeber müssen außerdem nach wie vor berücksichtigen, dass dem zu entlassenden Mitarbeiter das Kündigungsschreiben nicht schon vor Eingang der Massenentlassungsanzeige bei der Arbeitsagentur zugeht. In diesem Fall wäre die Kündigung unwirksam. Zudem besteht hinsichtlich der Endgültigkeit der vom BAG aufgestellten Grundsätze ein Restrisiko: Obwohl der EuGH in Bezug auf die Auslegungsfragen zur europäischen Massenentlassungsrichtlinie das letzte Wort hat, hat das BAG die Rechtsfrage nicht zur Vorabentscheidung vorgelegt. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass der EuGH künftig eine abweichende Auffassung vertritt, sollte ihm diese Frage vorgelegt werden.

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