BGH: Rechtmäßiges Alternativverhalten im Organhaftungsrecht - Kompetenzverstoß eines Vorstandsmitglieds gegen einen Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats

AktG §§ 93 Abs. 4 S. 1, 108 Abs. I, 111 Abs. 4 S. 2;

BGB § 242

  1. Bestimmen die Satzung oder der Aufsichtsrat, dass bestimmte Arten von Geschäften nur mit seiner Zustimmung vorgenommen werden dürfen, hat der Vorstand die Zustimmung des Aufsichtsrats grundsätzlich vor der Durchführung des Geschäfts einzuholen.
  2. Die Zustimmung kann, vorbehaltlich der Übertragung der Zustimmungsentscheidung auf einen Ausschuss, nur durch ausdrücklichen Beschluss des Aufsichtsrats erteilt werden und kann nicht durch eine Entscheidung des Aufsichtsratsvorsitzenden ersetzt werden.
  3.  Die Inanspruchnahme des Vorstandsmitglieds auf Schadensersatz durch eine Aktiengesellschaft wegen Pflichtverletzung ist regelmäßig nicht deshalb rechtsmissbräuchlich, weil der Alleinaktionär zuvor in das haftungsbegründende Geschäft eingewilligt hat.
  4. Der Vorstand kann gegenüber einer Schadensersatzklage der Aktiengesellschaft, die mit dem Verstoß gegen einen zugunsten des Aufsichtsrats eingerichteten Zustimmungsvorbehalt begründet ist, einwenden, der Aufsichtsrat hätte den von ihm durchgeführten Maßnahmen zugestimmt, wenn er ihn gefragt hätte.

BGH, Urt. 10.07.2018 – II ZR 24/17 (OLG Düsseldorf)

Sachverhalt

Der Beklagte war Vorstand der Klägerin. Alleinaktionärin der Klägerin ist die Stadt D, deren Oberbürgermeister den Vorsitz im Aufsichtsrat der Klägerin innehatte. Die Klägerin plante, von der Stadt einen Gebäudekomplex zu übernehmen, diesen zu sanieren und zu vermieten. Nach der Satzung der Klägerin hat der Vorstand bei Neuanschaffungen und Bauten im Wert von im Einzelfall über €200.000 die Zustimmung des Aufsichtsrats einzuholen. In einem ersten Beschlussvorschlag an den Aufsichtsrat bezifferte der Vorstand die Sanierungskosten auf €4.000.000. Diesem Vorschlag stimmte der Aufsichtsrat zu. Später korrigierte der Vorstand die zu erwartenden Sanierungskosten auf €6.400.000. Daraufhin fand eine Besprechung zwischen dem Beklagten und dem Oberbürgermeister in seiner Funktion als Aufsichtsratsvorsitzender statt. Nach dem Vortrag des Beklagten stimmte der Oberbürgermeister in dieser Besprechung dem Projekt trotz der erhöhten Sanierungskosten zu. Infolgedessen schloss die Klägerin (vertreten durch den Beklagten) einen Erbbaurechtsvertrag mit der Stadt und setzte das Projekt teilweise um.

Mit der Klage macht die Klägerin Organhaftungsansprüche gegen den Beklagten geltend, weil die für das Projekt erforderliche Zustimmung des Aufsichtsrats nicht vorgelegen habe. Die Klage hatte in der ersten Instanz Erfolg.

Entscheidung

Die Revision des Beklagten hatte Erfolg.

Zwar ging nach Ansicht des BGH das Berufungsgericht zu Recht davon aus, dass der Beklagte wegen der erhöhten Sanierungskosten (präventiv) einen neuen Zustimmungsbeschluss des Aufsichtsrats hätte einholen müssen und dass die Einwilligung des Aufsichtsratsvorsitzenden keinesfalls die Zustimmung des Aufsichtsrats ersetzt hat. Selbst wenn es eine Absprache mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden gegeben habe, so rechtfertigt diese Absprache nach Überzeugung des BGH auch nicht den Einwand der unzulässigen Rechtsausübung. Nach dem Gesetz ist nämlich allein die Hauptversammlung berechtigt, auf eine Ersatzpflicht des Vorstands zu verzichten. Dieses gesetzliche Kompetenzgefüge würde umgangen, wenn Absprachen zwischen dem Vorstand und dem Aufsichtsratsvorsitzenden zu einem Einwand der unzulässigen Rechtsausübung berechtigen würden.

Allerdings kann laut dem BGH der Vorstand den Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens auch dann geltend machen, wenn er einen satzungsmäßigen Zustimmungsvorbehalt nicht beachtet habe. § 93 II AktG regele den Ersatzanspruch von Vorstandsmitgliedern bei Pflichtverletzungen, sei jedoch kein Sanktionsinstrument für die Verletzung innergesellschaftlicher Kompetenzvorschriften. Der beklagte Vorstand müsse allerdings den sicheren Nachweis erbringen, dass der Schaden in jedem Fall eingetreten wäre. Dann sei der eingetretene Schaden dem Vorstand „grundsätzlich“ nicht zurechenbar.

Praxisfolgen

Die aktienrechtliche Organhaftung anerkennt den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens. Allerdings war bislang umstritten, ob dem Vorstand dieser Einwand auch dann zusteht, wenn er gesetzliche oder statutarische Kompetenz-, Organisations- oder Verfahrensregeln (z.B. einen Zustimmungsvorbehalt iSv §111 IV (2) AktG) missachtet hat. Der BGH hat diesen Streit nunmehr zugunsten des Vorstands entschieden. Da dem Aufsichtsrat bei seiner Zustimmungsentscheidung ein breites unternehmerisches Ermessen zusteht, eröffnet die neue BGH-Entscheidung dem beklagten Vorstand ganz neue Verteidigungsmöglichkeiten. Allerdings wird es in der Praxis erhebliche Probleme bereiten, zur vollen Überzeugung des Tatrichters den Nachweis zu führen, dass der Aufsichtsrat einem Geschäft mehrheitlich zugestimmt hätte, wenn er im Voraus ordnungsgemäß eingebunden gewesen wäre.

Trotz der BGH-Entscheidung ist dem Vorstand dringend anzuraten, die gesetzlichen oder statutarischen Kompetenz-, Organisations- oder Verfahrensregeln im Blick behalten. Der Nachweis für den Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens wird nämlich vermutlich eher selten gelingen.

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