BGH: Auslegung gesellschaftsvertraglicher Mehrheitsklauseln bei Publikumskommanditgesellschaften

HGB §§ 109, 161 II, 163

Eine im Gesellschaftsvertrag einer Publikums-personengesellschaft vereinbarte Mehrheits-klausel, die unter dem Vorbehalt abweichender gesetzlicher Bestimmungen steht, ist typi-scherweise dahin auszulegen, dass die Mehr-heitsklausel dispositiven gesetzlichen Rege-lungen vorgeht. 

BGH, Urteil vom 11.09.2018 - II ZR 307/16 (OLG Celle)

Sachverhalt

Die Klägerin ist Kommanditistin der Beklagten, einer Publikumskommanditgesellschaft. Deren Komplementärin sollte über einen Gesellschafter-beschluss veranlasst werden, Zahlungen für die Gesellschaft an einen Dritten zu tätigen. Im Rah-men der Abstimmung über den Beschluss stellte der Versammlungsleiter das Fehlen der Einstim-migkeit und damit die Ablehnung des Beschlusses fest. Der Gesellschaftsvertrag der KG sah vor, dass Beschlüsse mit einfacher Mehrheit gefasst werden, „sofern nicht gesetzliche Regelungen […] andere Mehrheitserfordernisse vorsehen.“ Die Auslegung dieser Klausel war streitentscheidend. 

Die Klägerin begehrt unter anderem Feststellung der Nichtigkeit des ihren Beschlussantrag ableh-nenden Gesellschafterbeschlusses. Die Berufung der Klägerin war erfolglos.

Entscheidung

Die Revision der Klägerin hatte teilweise Erfolg.

Der ablehnende Beschluss ist nichtig, da es auf-grund der im Gesellschaftsvertrag verankerten Mehrheitsklausel keines einstimmigen Beschlusses bedurfte. Die Klausel hält mithin einer gerichtlichen Zulässigkeitskontrolle stand. Eine restriktive Auslegung sei auch nicht aufgrund des Be-stimmtheitsgrundsatzes geboten, da dieser keine Anwendung mehr finde. Der BGH betont, das Mehrheitsprinzip sei bei der Publikumsgesellschaft interessengerecht, da Blockaden von Beschlüssen durch einzelne Gesellschafter vorzubeugen seien und eine Teilnahme aller Gesellschafter an der Gesellschafterversammlung praktisch nicht erreicht werden könne.

Nach Ansicht des BGH sei das Berufungsgericht fälschlich davon ausgegangen, der Vorbehalt ab-weichender gesetzlicher Vorschriften umfasse auch die das Einstimmigkeitsprinzip normierenden, dispositiven Vorschriften §§ 161 II, 116 II, 119 HGB. Vielmehr sei die streitgegenständliche Klausel lebensnah dahingehend auszulegen, dass gerade von dem Einstimmigkeitsprinzip abgewi-chen werden und sich der Vorbehalt nur auf zwin-gende Vorschriften beziehen solle. Andernfalls verbliebe einer solchen Regelung im Gesell-schaftsvertrag kein sinnvoller Anwendungsbereich mehr.

Praxisfolgen

Mehrheitsklauseln bei Publikumskommanditgesell-schaften sind weit auszulegen. Die vorliegende BGH-Entscheidung bestätigt mehrere bislang ent-wickelte Auslegungsgrundsätze zu Mehrheitsklau-seln in Personenpublikumsgesellschaften. Hierzu zählen die Abschaffung des Bestimmtheitsgrund-satzes sowie die allgemeine Zulässigkeit weiter Formulierungen der Beschlussgegenstände. Durch die Anwendung dieser Auslegungsgrundsätze, trotz vorliegenden Vorbehalts abweichender gesetzlicher Bestimmungen, trifft der BGH eine Entscheidung, die dem starken Bedürfnis nach Mehrheitsentscheidungen in Publikumsgesell-schaften gerecht wird.

In der Praxis ist trotz der Entscheidung weiterhin mit Rechtsunsicherheiten zu rechnen. Die darge-stellten Auslegungsgrundsätze gelten zweifellos für Publikumspersonengesellschaften. Unbeant-wortet ist indes die Frage, ob diese weite Ausle-gung auch auf kleinere Kommanditgesellschaften, wie z. B. die Familien-KG, Anwendung findet. Dies ist eher zu verneinen, da der BGH betont, die weite Auslegung sei der besonderen Struktur der Publikums-KG geschuldet. Ein Blick in die Literatur verrät, dass diese weiterhin überwiegend von der Anwendbarkeit des Bestimmtheitsgrundsatzes ausgeht und sich gegen eine weite Auslegung von Mehrheitsklauseln ausspricht. Für die Vertrags-praxis sollte mithin der sicherste Weg gewählt werden, welcher sowohl der Rechtsprechung als auch der Literatur Rechnung trägt.

Um Rechtsunsicherheiten zu vermeiden sollten Mehrheitsklauseln in Gesellschaftsverträgen von Personengesellschaften jeglicher Art und Größe für bestimmte Beschlussgegenstände ausdrücklich das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit vorsehen.
 

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