Bundesarbeitsgericht erklärt DHV für tarifunfähig

Das BAG hat entschieden, dass die DHV nicht mehr tariffähig ist, weil es ihr an der erforderlichen sozialen Mächtigkeit fehle.

BAG, Beschluss vom 22.06.2021, Aktenzeichen 1 ABR 28/20

Die Tariffähigkeit der DHV – ein jahrzehntelanger Streit

Die „DHV – Die Berufsgewerkschaft e.V.“ („DHV“) blickt auf eine lange Geschichte zurück: Erstmalig begründet wurde sie bereits im Jahre 1893 und hat seitdem rund 24.000 Tarifverträge abgeschlossen. Den Kreis der Arbeitnehmer, deren Interessen sie vertreten wollte, hat sie im Laufe der Zeit erheblich erweitert. Nach ihrer Neugründung im Jahr 1950 war die DHV noch eine Gewerkschaft der Kaufmannsgehilfen; nach Inkrafttreten der letzten Satzungsänderung im Jahr 2014 hingegen erstreckte sich ihre Tarifzuständigkeit auf Arbeitnehmer in verschiedensten Branchen, die untereinander keinen nennenswerten Bezug aufweisen – die DHV sieht sich seitdem zuständig für Arbeitnehmer von privaten Banken und der Fleischwarenindustrie bis hin zur Textilreinigung und zu Rechtsanwälten.

Nach eigenem Bekunden zählt die DHV über ca. 66.800 Mitglieder in ihrem Zuständigkeitsbereich, der sich insgesamt auf ca. 6,3 Millionen Arbeitnehmer erstrecken würde. Insgesamt sei also etwa ein Prozent der potenziellen Mitglieder der DHV beigetreten, wobei der Wert je nach Branche zwischen ca. 0,3% und 2,4% schwanken soll.

Andere Gewerkschaften (insbesondere die DGB-Gewerkschaften) standen der DHV schon seit Langem kritisch gegenüber, weil diese – so der Vorwurf – in Tarifverhandlungen wirtschaftsfreundlich agiere und vermeintlich „Gefälligkeitstarifverträge“ abgeschlossen habe. Seit den 1950er Jahren sind sie bereits mehrfach erfolglos vor Gericht gezogen, um der DHV die Tariffähigkeit aberkennen zu lassen. Immer wieder konnte die DHV ihre Tariffähigkeit vor den Arbeitsgerichten behaupten. 

DHV ist seit 21. April 2015 tarifunfähig 

In seiner jüngsten Entscheidung (Beschluss vom 22. Juni 2021, Az. 1 ABR 28/20) hat das BAG nunmehr befunden, dass die DHV seit dem 21. April 2015 tarifunfähig ist. Damit bestätigte es den vorhergehenden Beschluss des LAG Hamburg (Beschluss vom 22. Mai 2020, Az. 5 TaBV 15/18).

Nach der bislang lediglich veröffentlichten Pressemitteilung (Pressemitteilung Nr. 15/21 des BAG zum Beschluss vom 22. Juni 2021, Az. 1 ABR 28/20) begründet das BAG die Tarifunfähigkeit der DHV damit, dass es ihr an der sozialen Mächtigkeit fehle, also an der Durchsetzungskraft gegenüber der Arbeitgeberseite und an organisatorischer Leistungsfähigkeit. Somit fehle ihr die Verhandlungsstärke, die erforderlich wäre, damit die Tarifvertragsparteien im Verhandlungsgleichgewicht stehen.  

Die Beurteilung der sozialen Mächtigkeit erfolgt in der Regel auf Grundlage der Anzahl und der Zusammensetzung der Mitglieder der Vereinigung im Verhältnis zur Anzahl aller Arbeitnehmer, deren Interessen sich die Vereinigung satzungsgemäß verschrieben hat. Einen bestimmten Grenzwert gibt es dabei jedoch nicht, sondern das Vorliegen sozialer Mächtigkeit wird im Rahmen einer Einzelfallbetrachtung festgestellt. 

Im Falle der DHV entschied das BAG, dass sie in den vielen Branchen, deren Interessen sie vertreten möchte, nicht über genug Mitglieder im Verhältnis verfügt, was nicht zuletzt auf die Ausdehnung des Zuständigkeitsbereichs in den Jahren bis 2014 zurückzuführen ist, durch welche die DHV eine Tarifunfähigkeit wegen zu geringer Mitgliederzahlen eigentlich gerade verhindern wollte. Nach Ansicht der mit dem Sachverhalt zuletzt befassten Gerichte wiegt die geringe Mitgliederzahl so schwer, dass sie auch nicht dadurch ausgeglichen werden kann, dass die DHV bereits zehntausende Tarifverträge abgeschlossen und nach der Satzungsänderung aktiv am Tarifgeschehen teilgenommen hat, auch wenn dies grundsätzlich soziale Mächtigkeit indizieren könnte. 

Folgen der Aberkennung der Tariffähigkeit 

Unmittelbare Folge ist, dass die DHV keine rechtskräftigen Tarifverträge mehr abschließen kann.

Darüber hinaus bleiben viele Fragen offen: 

 

  • Inwieweit die seit dem 21. April 2015 abgeschlossenen Tarifverträge rückwirkend (ex tunc) unwirksam sind, ist nicht klar. Mit Verweis auf Entscheidungen des BAG betreffend die CGZP (BAG, BAG, Urteil vom 13. März 2013, Az. 5 AZR 954/11) könnte die anfängliche Unwirksamkeit angenommen werden.  Die Lehre vom fehlerhaften Tarifvertrag, wonach eine Unwirksamkeit der Tarifverträge für die Zukunft (ex nunc) gelten sollte, hat das BAG im Zusammenhang der Tarifunfähigkeit der CGZP im Kontext der Equal pay Regelungen (§§ 8, 9 Abs. 1 Ziff. 2 AÜG) ausdrücklich abgelehnt.  Aufgrund des anders gelagerten Sachverhalts (das LAG Hamburg hatte zuletzt noch 2016 die Tariffähigkeit bejaht) ist vorliegend jedoch nicht ausgeschlossen, dass sich Arbeitgeber, die mit der DHV nach dem 21. April 2015 Tarifverträge abgeschlossen haben, eventuell auf Vertrauensschutzgesichtspunkte berufen werden können. 

  • Gelten die von der DHV in dem Zeitraum vor dem 21. April 2015 geschlossenen Tarifverträge normativ in ungekündigtem Zustand weiter oder wirken sie eventuell nach? 

  • Unentschieden ist bisher, ob ein aufgrund der (zeitlich beschränkten) Aberkennung der Tariffähigkeit einer Gewerkschaft grundsätzlich anfänglich unwirksamer Tarifvertrag Anknüpfungspunkt für eine betriebliche Vergütungsordnung sein kann. 

  • Nicht geklärt ist, welche Auswirkungen die Entscheidung auf dynamische Verweisungen in Individualarbeitsverträgen haben wird.

(K)ein Ende in Sicht? 

Das BAG hat mit diesem Beschluss aufgezeigt, dass kleinere Gewerkschaften, deren Mitgliedszahlen im Sinken begriffen sind, nicht durch bloße Zuständigkeitserweiterungen ihre Tariffähigkeit behalten können werden – vielmehr ist die DHV vor allem daran gescheitert. Der aktuelle Beschluss könnte damit das Ende des bereits seit acht Jahren anhaltenden Verfahrens gegen die DHV darstellen – oder ist das doch erst der Anfang?

Es ist nicht auszuschließen, dass die DHV nach Vorliegen der Urteilsgründe versuchen wird, den Beschluss unter Berufung auf die Verletzung ihres Rechts auf Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG vor dem Bundesverfassungsgericht („BVerfG“) anzugreifen. Da das BAG dafür schon mehrfach kritisiert wurde, in seiner gefestigten Rechtsprechung zur Tariffähigkeit hauptsächlich (oder bei jüngeren Gewerkschaften sogar nur) die relative Anzahl der Mitglieder zu berücksichtigen, ist nicht undenkbar, dass ein Grundrechtsverstoß bejaht und die Sache an die Arbeitsgerichtsbarkeit zurückverwiesen werden könnte. Zuletzt war die Verfassungsbeschwerde der Neue Assekuranz Gewerkschaft („NAG“), einer Arbeitnehmervereinigung der privaten Versicherungsbranche, der ebenfalls wegen zu geringer Mitgliedszahlen die Tariffähigkeit abgesprochen wurde, gescheitert, nachdem das BVerfG ihre Verfassungsbeschwerde nicht einmal zur Entscheidung angenommen hatte (Beschluss vom 13. September 2019, Az. BvR 1/16). 

Im Anschluss an ein Verfahren in Karlsruhe wäre es zudem denkbar, dass die DHV – nach einer Entscheidung bzw. Nichtannahme durch das BVerfG – den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg anruft. Die NAG hat sich bereits im Jahr 2020 an den EGMR gewandt, wobei eine Entscheidung bislang aussteht.  

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