Wegen (regelmäßig) vorhandener Leiharbeitnehmer: Unwirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung eines Stammarbeitnehmers

Die betriebsbedingte Kündigung von Stammarbeitnehmern ist wegen alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten unwirksam, wenn der Arbeitgeber Leiharbeitnehmer beschäftigt, mit denen er ein ständig vorhandenes Arbeitsvolumen abdeckt. 

LAG Köln – Urteil vom 02. September 2020 – (Az.: 5 Sa 295/20) 

Dies hat das Landesarbeitsgericht Köln entschieden. Bei den Leiharbeitnehmern habe es sich nicht um eine ggf. für betriebsbedingte Kündigungen unschädliche Vertretungsreserve gehandelt, da sie fortlaufend beschäftigt wurden. Eine betriebsbedingte Kündigung sei also erst nach Entlassung dieser Leiharbeitnehmer zulässig gewesen. 

Die Parteien stritten vor Gericht um die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung. Bei dem beklagten Arbeitgeber handelte es sich um einen Automobilzulieferer mit im Zeitpunkt der Kündigung 106 Arbeitnehmern und acht Leiharbeitnehmern. Nachdem der Auftraggeber des Automobilzulieferer das Auftragsvolumen reduziert hat, reduzierte sich für das Unternehmen auch die Anzahl der benötigten Arbeitnehmer, sodass sechs Stammarbeitnehmern betriebsbedingt gekündigt wurde. Hierzu gehörte auch der Kläger, welcher der Ansicht war, dass infolge des Personalabbaus zuerst die Anzahl der Leiharbeitnehmer reduziert werden müsste, bevor er selbst gekündigt werden dürfe.

Der Arbeitgeber setzte jedoch in einem Zeitraum von zwei Jahren fortlaufend sechs Leiharbeitnehmer ein. Das Arbeitsgericht Köln stellte die Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigung wegen alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten fest (ArbG Köln, Urteil vom 24. Januar2020 - 1 Ca 4152/19). Dieses Urteil hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Köln nun bestätigt und die Berufung der Beklagten abgewiesen. Die Revision wurde jedoch zugelassen.

Das Landesarbeitsgericht ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die betriebsbedingte Kündigung gemäß § 1 Abs. 1 KSchG sozial ungerechtfertigt sei, da im Kündigungszeitpunkt eine alternative Beschäftigungsmöglichkeit im Sinne von § 1 Abs. 2 S. 2 KSchG für den Kläger bestanden habe. Als Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips müsse dem Arbeitgeber die Möglichkeit fehlen, dem bei Ausspruch der Kündigung absehbaren Wegfall des Beschäftigungsbedarfs durch andere Maßnahmen als durch eine Beendigungskündigung zu entsprechen. Nur dann seien „dringende“ betriebliche Erfordernisse im Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG gegeben. Im Falle einer Beschäftigung von Leiharbeitnehmern in dem Betrieb hänge es nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab, ob „freie“ Arbeitsplätze zur Verfügung stünden:

Wenn Leiharbeitnehmer nur zur Abdeckung von „Auftragsspitzen“ eingesetzt werden, liege keine alternative Beschäftigungsmöglichkeit im Sinne von § 1 Abs. 2 S. 2 KSchG vor. Der Arbeitgeber könne dann typischerweise nicht davon ausgehen, dass er für die Auftragsabwicklung dauerhaft Personal benötige. Beschäftige er hingegen Leiharbeitnehmer, um mit ihnen ein nicht schwankendes, ständig vorhandenes (Sockel-)Arbeitsvolumen abzudecken, komme eine alternative Beschäftigungsmöglichkeit in Betracht, die vorrangig für sonst zur Kündigung anstehende Stammarbeitnehmer genutzt werden müsse.

Ein „freier“ Arbeitsplatz fehle nach der Rechtsprechung des BAG auch dann, wenn Leiharbeitnehmer als „Personalreserve“ zur Abdeckung von Vertretungsbedarf beschäftigt werden. Im vorliegenden Fall hat das LAG Köln aber eine solche Vertretungsreserve verneint. Zur Begründung verweist das Gericht auf eine Entscheidung des 7. Senats des BAG zum Befristungsrecht. Dieser hat im Jahr 2017 entschieden, dass sich der Arbeitgeber nicht auf den Sachgrund der Vertretung berufen könne, wenn die fortlaufende befristete Beschäftigung des Arbeitnehmers den Schluss auf einen dauerhaften Bedarf an dessen Beschäftigung zulasse.

Wenn der Arbeitgeber also mit der befristeten Beschäftigung eines Arbeitnehmers einen dauerhaften Bedarf abdecken wolle, liege kein Fall der Vertretung vor. Diese Rechtsprechung sei nach Ansicht des LAG Köln auch für die Wirksamkeit betriebsbedingter Kündigungen bei Einsatz von Leiharbeitnehmern relevant. Ergebe sich, dass ein Dauerbedarf bestehe, werden auch Leiharbeitnehmer nicht als „Personalreserve“ zur Abdeckung eines Vertretungsbedarfs beschäftigt. Hier ergebe sich der Dauerbedarf aus der fortlaufenden Beschäftigung von jedenfalls sechs Leiharbeitnehmern, sodass von einem ständig vorhandenen Arbeitsvolumen auszugehen sei.

Folgen für die Praxis im Kündigungsrecht: Leiharbeitnehmer müssen zuerst gehen!

Betriebsbedingte Kündigungen sind nicht nur zurzeit allgegenwärtig und damit auch permanent Gegenstand gerichtlicher Verfahren. 

Gerade aber in der aktuellen Corona-Krise sind viele Unternehmen zu Umstrukturierungen und damit verbundenen betriebsbedingten Kündigungen gezwungen. Jede betriebsbedingte Kündigung muss aber (auch zu Pandemie-Zeiten) individuell sozial gerechtfertigt und stets das letzte Mittel (Ultima-Ratio-Prinzip) sein. Die vorliegende Entscheidung hebt erneut hervor, dass zunächst alternative Beschäftigungsmöglichkeiten für den betroffenen Arbeitnehmer zu suchen sind. Sollte sich die vom LAG Köln aufgezeigte Bewertung auch vor dem Bundesarbeitsgericht durchsetzen, müssen – jedenfalls im Regelfall – die vom Arbeitgeber (regelmäßig) beschäftigten Leiharbeitnehmer zuerst abgebaut werden, bevor betriebsbedingte Kündigungen der Stammbelegschaft erfolgen können. 

Insights

Mehr

Nachhaltige und umweltfreundliche öffentliche Beschaffung: Rechtspflicht und Gebot der Stunde

Apr 09 2024

Mehr lesen

FTTH/FTTB: Wie steht es um die Finanzierung des Glasfaserausbaus in Deutschland?

Apr 02 2024

Mehr lesen

Reform der Produkthaftung - Neue Haftungs- und Prozessrisiken für Unternehmen!

Mrz 27 2024

Mehr lesen