Außerordentliche Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers: Überschreitung der Zweiwochenfrist und Voraussetzungen

Die Arbeitsgerichte haben bei der außerordentlichen Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers zu prüfen, ob die Kündigung unverzüglich im Sinne von § 174 Abs.5 SGB IX erklärt wurde. Ob die Frist zur Antragstellung nach § 174 Abs.2 SGB IX hingegen eingehalten wurde, ist allein vom Integrationsamt zu beurteilen.

BAG – Urteil vom 11.06.2020 – 2 AZR 442/19

Fristlose Kündigung wegen wiederholten kostenpflichtigen Anrufens einer Glücksspiel-Hotline

Die Parteien stritten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung. Der Kläger ist einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt und war bei der Beklagten angestellt. Er nutzte zusammen mit einem Kollegen ein Diensttelefon. Nachdem der Beklagten im Februar auffiel, dass innerhalb von zwei Wochen 2756 Mal kostenpflichtig eine Glücksspiel-Hotline angerufen worden war, hörte sie den Kläger sowie seinen Kollegen im März an. Die Anhörung erfolgte erst am 14. März 2019, da der Kläger zuvor zwei Wochen arbeitsunfähig erkrankt war.

Beide bestritten die Vorwürfe, jedoch erhärtete sich der Verdacht gegen den Kläger, da der Kollege im Zeitraum der Anrufe zeitweise nicht bei der Arbeit war. Die Beklagte beantragte die Zustimmung zur Kündigung bei dem zuständigen Integrationsamt. Dieses äußerte sich in der zweiwöchigen Zustimmungsfrist nicht, sodass nach § 174 Abs.3 S.2 SGB IX die Zustimmungsfiktion eintrat. Nach Erhalt der Zustimmungsfiktion und Anhörung von Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos.

BAG: Arbeitsgerichte prüfen nicht die rechtzeitige Antragstellung im Sinne von § 174 Abs.2 SGB IX

Das BAG entschied, dass die Kündigung nicht wegen Versäumung der Kündigungsfrist des § 626 Abs.2 BGB unwirksam sei. Gemäß § 174 Abs.5 SGB IX kann die Kündigung auch nach Ablauf der Zweiwochenfrist des § 626 Abs.1 BGB erfolgen, solange sie unverzüglich nach der Zustimmung des Integrationsamtes erfolgt.

Unverzüglich bedeute „ohne schuldhaftes Zögern“, also ohne ein Zuwarten, das durch die Umstände des Einzelfalls nicht geboten ist. Im vorliegenden Fall sei das Zuwarten geboten gewesen:

Die Beklagte hatte am Tag der Mitteilung des Integrationsamtes den Betriebsrat und die Schwerbehindertenvertretung angehört und einen Tag nach der Zustimmung des Betriebsrates die Kündigung ausgesprochen.

Nicht zu prüfen habe das Arbeitsgericht, ob der Arbeitgeber innerhalb der Frist des § 174 Abs.2 SGB IX die Zustimmung des Integrationsamtes beantragt hat. Vielmehr sei es an die erteilte Zustimmung des Integrationsamtes gebunden. Ob die Anhörung des Klägers und die Antragstellung bei dem Integrationsamt innerhalb der Zweiwochenfrist des § 626 Abs.1 BGB erfolgt seien, überprüfe das Arbeitsgericht nicht.

Gleichzeitig wies das BAG darauf hin, dass die Anhörung des Arbeitnehmers nicht während seiner Arbeitsunfähigkeit erfolgen musste. Die zweiwöchige Frist zur Kündigung beginnt erst mit Abschluss der Sachverhaltsaufklärung. Der Arbeitgeber sei laut BAG nicht verpflichtet zu prüfen, ob ein arbeitsunfähig erkrankter Arbeitnehmer an der Sachverhaltsaufklärung mitwirken kann. Der Arbeitgeber dürfe zwar nicht beliebig lange bis zur Anhörung abwarten.

Jedoch finde die unverzügliche Sachverhaltsaufklärung dort ihre Grenzen, wo die Anhörung die Genesung des Arbeitnehmers beeinträchtigen könnte. Daher dürfe der Arbeitgeber grundsätzlich mit der Anhörung bis zur Genesung warten. Es könne allerdings geboten sein, bei längerer Arbeitsunfähigkeit beim Arbeitnehmer nachzufragen, ob er an der Aufklärung des Sachverhalts mitwirken kann.

Kündigung eines schwerbehinderten Menschen in der Praxis

Das BAG stärkt mit diesem Urteil die Arbeitgeber bei der komplexen Kündigung, insbesondere Verdachtskündigung, eines schwerbehinderten Menschen und ändert damit seine bisherige Rechtsprechung.

Bislang vertrat das BAG die Auffassung, dass nur dann die Frist des § 626 Abs.2 BGB ausgedehnt wird, wenn der Arbeitgeber die erforderliche Zustimmung durch das Integrationsamt innerhalb der Zweiwochenfrist des § 626 Abs.2 BGB beantragt hat. Nur dann, wenn die Kündigung deshalb nicht in der Zweiwochenfrist ausgesprochen werden konnte, weil die Zustimmung des Integrationsamtes noch nicht vorlag, sollte § 174 Abs.5 SGB IX eingreifen.

War die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs.2 BGB jedoch vor Antragstellung bereits abgelaufen, weil etwa eine Anhörung wegen Arbeitsunfähigkeit nicht möglich war und sich die Aufklärung daher verzögerte, sollte der Anwendungsbereich des § 174 Abs.5 SGB IX erst gar nicht eröffnet sein. Folge war dann, dass eine außerordentliche Kündigung nicht mehr möglich war. An dieser Rechtsprechung hält das BAG nun ausdrücklich nicht länger fest. Der Arbeitgeber kann laut BAG den Arbeitnehmer zunächst anhören und erst dann die Zustimmung beantragen, auch wenn dies bedeutet, dass bei Antragstellung die Zweiwochenfrist bereits abgelaufen ist. Nach Zustimmung oder Fiktionseintritt kann sodann die Kündigung erfolgen.

Ob die Zweiwochenfrist zur Antragstellung eingehalten ist, prüfen die Arbeitsgerichte nicht. Hierbei sind sie vielmehr an die Entscheidung des Integrationsamtes gebunden. Für den Arbeitnehmer bedeutet das, dass im Zweifelsfall auch ein verwaltungsgerichtliches Verfahren anzustrengen ist, um zu überprüfen, ob der Arbeitgeber rechtzeitig die Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung beantragt hat.

Auch der Hinweis auf die Anhörungspflicht bei Arbeitsunfähigkeit ist begrüßenswert, wenngleich nicht eindeutig. Arbeitgeber sollten eine angemessene Zeit abwarten, wenn sie einen arbeitsunfähigen Arbeitnehmer zu einem Sachverhalt anhören möchten. Bleibt der Arbeitnehmer arbeitsunfähig, ist sich nach der Möglichkeit der Mitwirkung an einer Anhörung – gegebenenfalls auch schriftlich – zu erkundigen. Was genau unter angemessen zu verstehen ist lässt das BAG offen. In der Vergangenheit hat das Gericht eine dreiwöchige Abwartphase als angemessen angesehen. Nach dieser Zeit sollte der Arbeitgeber also in jedem Fall einmal nachfragen, ob sich der Arbeitnehmer trotz Arbeitsunfähigkeit an der Aufklärung beteiligen will.

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